"Russland wird im Ausland auf jeden Fall unterschätzt"
Gianguido Piani hat angewandte Physik und Ingenieurwesen studiert und beschäftigt sich mit der effizienten Nutzung von Energie und dem Klimaschutz. Er hat einige Zeit in Schweden und Deutschland gearbeitet und lebt seit Mitte der 90er-Jahre in St. Petersburg, wo er als selbstständiger Energieberater tätig ist.
Durch seinen langen Auslandsaufenthalt ist er mit der russischen Kultur und Mentalität vertraut. Dies ermöglicht ihm, gesellschaftliche Veränderungen aus nächster Nähe zu betrachten und sich intensiv mit dem Klimaschutz auseinanderzusetzen. Regelmäßig berichtet er von seinen Erfahrungen in russischen und italienischen Zeitungen. Er publizierte außerdem zahlreiche Bücher und Fachartikel.
Im Interview berichtet er vom Image Problem Russlands, dem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften und der enormen Energieverschwendung. Piani erklärt, warum das europäische Emissionsrechtehandelssystem ETS nicht funktioniert und europäische Unternehmen und Institutionen langfristig das Nachsehen haben. Er spricht außerdem über die Chancen für Südtiroler Unternehmen und Klimahaus auf dem russischen Markt, seine Arbeit als Energieberater und die Zukunft Südtirols.
In der letzten Zeit häufen sich Negativ-Schlagzeilen über Russland. Kann es sein, dass die Kritik in den westlichen Medien manipulativ ist? Unterschätzt der Westen Russland?
Ja, Russland wird im Ausland auf jeden Fall unterschätzt. Im Westen werden positive Nachrichten aus Russland allzu oft verschwiegen. Auf der anderen Seite schafft es Russland nicht, ein positives Image zu vermitteln. Nach wie vor will das Land gefürchtet, aber nicht geliebt werden. Doch vor einigen Jahren hat der Fernsehkanal Russia Today als Antwort auf CNN seinen Betrieb aufgenommen. Dieser Kanal bietet fundierte Qualitätsinformationen und erscheint sogar in den USA vielen glaubwürdiger als die nationalen Nachrichten-Netzwerke.
Russland betreibt mit GLONASS sein eigenes globales Navigationssystem und will damit die Vormachtstellung der USA brechen. Ist diese politische Einstellung auch in anderen Bereichen erkennbar?
Sie ist sehr deutlich zu erkennen, doch Russland hat ein gravierendes Problem: Es herrscht ein akuter Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Nach offiziellen Schätzungen sind mehr als eine Million Stellen für leitende Positionen unbesetzt, bezogen auf eine Gesamtbevölkerung von 147 Mio. Spitzfindige Vorschriften machen es jedoch äußert schwierig, Ausländer anzustellen, geschweige denn sie über einen längeren Zeitraum zu halten. Selbst wenn ein Ausländer diese Hürden überwinden kann, gibt es dann noch aberwitzige und altertümliche Regelungen zu Dienstreisen und Arbeitszeiten. Diese Probleme werden von den wichtigsten Medien aufgegriffen, offen diskutiert und es werden Rufe nach einer Fortentwicklung laut. Jedoch ist Populismus in Russland weit verbreitet, sodass jede vernünftige Lösung, die zur Lockerung des Systems beitragen könnte, sofort als Privileg für bestimmte Klassen interpretiert werden würde.
Wird der Klimawandel und die enorme Energieverschwendung in Russland in den Medien thematisiert? Wie kann die Energieeffizienz in Russland gesteigert werden?
Der Klimawandel wird thematisiert, jedoch nicht so stark wie im Westen. Außerdem wird er nicht unbedingt als negativ betrachtet. In der Vorstellung mancher Russen hat die globale Erwärmung durchaus auch positive Seiten, denn in Russland ist es ohnehin zu kalt. Zur Steigerung der Energieeffizienz hat Russland ein ernsthaftes Programm, das sogar fundierter als jenes der EU ist. Das Ziel der Steigerung der Energieeffizienz ist jedoch rein wirtschaftlicher Natur: Die Energie, die in Russland eingespart werden würde, könnte im Ausland (China, Japan, EU) gegen harte Währung verkauft werden. Die Kluft zwischen Theorie und Praxis ist dennoch sehr groß und es gibt noch sehr viel zu tun.
Das europäische Emissionsrechtehandelssystem ETS wäre fast kollabiert: Im Moment werden EU-CO2-Zertifikate für gerade einmal 5 Euro je Tonne gehandelt, sodass Kohlekraftwerke in Europa weiterhin ökonomisch attraktiv bleiben. Welche Maßnahmen sind Ihrer Meinung nach notwendig, um die gesetzten Emissionsziele zu erreichen?
CO2-Emissionen können reduziert werden: Vor allem die koordinierte Ressourcenplanung und komplexe Projekte, welche in der Stadtplanung ihre Anwendung finden, können einen entscheidenden Beitrag leisten. Ein gut ausgebauter und funktionierender Nahverkehr sorgt dafür, dass das Auto öfter stehen gelassen wird und somit auch der CO2-Ausstoß weiter gesenkt werden kann. Zu diesem Schluss ist die EU bereits Ende der 1980er Jahre gekommen. Das Problem war damals die Einbindung Russlands, Chinas und der USA in eine globale Klimapolitik. 1997 machten die USA ihre Teilnahme am Kyoto-Protokoll von der Einführung eines Emissionsrechtehandelssystems abhängig und die EU war gezwungen, die eigene Politik radikal zu ändern.
Nach ihrer Unterschrift lehnten die USA die Ratifizierung des Kyoto-Protokolls jedoch ab. Die EU blieb mit einem neuen und unbekannten Emissionshandelssystem stehen, wofür sich amerikanische (!) Experten als Berater für dessen Gestaltung und Anwendung anboten – gegen Bezahlung, versteht sich. Heute ist das europäische ETS im Grunde genommen ein amerikanisches Produkt, während in den USA keine Pflicht zum Handel von Zertifikaten besteht.
Inzwischen arbeiten die USA nach einer pragmatischen und integrierten Gesamtplanung, auf eine Weise, die in der EU verboten ist. Teilnehmer im Emissionshandel ist jedoch nur die EU! Da diese Rechte in Europa von echten Reduzierungen von Emissionen nicht zu bekommen sind, werden sie aus dem Ausland, vor allem aus China, angekauft. China hat es sofort verstanden, den Emissionshandel für die eigenen Zwecke zu nutzen. So werden Fabriken zur Erzeugung klimaschädlicher Gase errichtet, vor allem Fluoroform (HFC-23), um diese Gase dann sofort wieder zu vernichten. Nach den geltenden Regeln darf China als „Entwicklungsland“ klimaschädliche Gase frei produzieren, bekommt aber als „Partner im Kyoto-Protokoll“ eine Kompensation bei deren Vernichtung. Außer China verdienen die großen europäischen Energieunternehmen enorm an diesem Geschäft.
Die EU zahlt somit netto Milliarden an China, um die eigenen Emissionsregeln nicht einhalten zu müssen. Gleichzeitig sind weder China noch die USA an irgendwelche Emissionsgrenzen gebunden.
Das sogenannte Smart Grid (intelligentes Stromnetz) ist immer weiter auf dem Vormarsch und soll den Wettbewerb auf den Energiemärkten erhöhen. Können Konsumenten auf sinkende Preise hoffen? Wie schreitet die Entwicklung in Russland voran?
Etwas niedrigere Energiepreise wird es in Krisenzeiten wie heute nur geben, wenn die Nachfrage sinkt. Ein Wettbewerb auf den Energiemärkten ist nach heutigem Stand der Technik nicht richtig möglich, da die Lösungen (Steuerung, Regelung und Energiespeicher) teurer sind als der mögliche Preisvorteil durch den Markt. In Russland hat man große Pläne für die Zukunft, doch es fehlt noch an Koordination. Eine interessante Entwicklung ist, dass Großkunden immer mehr Einfluss nehmen können und strukturiertere Preise verlangen, welche von der nachgefragten Leistung, der verbrauchten Energiemenge und dem Verbrauchszeitpunkt abhängen.
Seit Kurzem sind die Gaspreise in Europa nicht mehr an den Rohölpreis gebunden. Außerdem hat der Schiefergas-Boom in den USA auch die Preise in Europa gedrückt. Während Gazprom noch vor kurzer Zeit Angst in Europa schürte, wird jetzt behauptet, der Energieriese sei in der Krise. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Ich würde Gazprom und Russland bei Weitem nicht unterschätzen, sondern sie sehr ernst nehmen. Wenn die EU es mit der Reduzierung von CO2-Emissionen ernst meint, dann sollte sie sofort in Russland mit Gazprom zusammenarbeiten. Von den Gasfeldern über die Rohrleitungen bis zu den Verbrauchern gibt es jede Menge zu tun. Leider verbietet das EU-Wettbewerbsrecht die Umsetzung vieler guter Ideen, während chinesische Firmen sich in der russischen Energiewirtschaft breitmachen. Die Chinesen denken langfristig, unsere Wirtschaft und Institutionen kurzfristig. Bei uns lautet die Hauptfrage, wie man vom ETS-Handel im nächsten Quartal profitieren kann, während sich chinesische Unternehmen bereits für die Zukunft positionieren.
Der russische Dichter Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew schrieb: „Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht messen mit Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land.“
Tjuttschew und ich haben denselben Geburtstag, manchmal scherze ich mit russischen Freunden darüber. Doch heutzutage müsste dem 7. Oktober, dem Geburtstag Vladimir Vladimirovichs, eine größere Bedeutung zukommen. Tjuttschews Aussage, die auf Russisch sehr gut klingt, wird in Russland oft zitiert, um unlogische Situationen zu erklären und zu rechtfertigen. Solche kommen übrigens sehr häufig vor.
Das russische Zentrum Borodina – Meran soll die Kooperation zwischen Südtirol und Russland stärken. Welche Chancen und Risiken bietet der russische Markt für Südtiroler Unternehmen?
Der russische Markt bietet eine riesengroße Chance für Südtirol, ist aber auch mit einigen Herausforderungen verbunden. Russland könnte ein wichtiger strategischer Partner für Südtirol werden, wenn Südtirol eine entsprechende Strategie hätte. Mit Russland muss man langfristig planen und viel Geduld mitbringen.
Das russische Zentrum Borodina macht eine gute Arbeit und schafft Möglichkeiten, die dann von Südtiroler Unternehmen und Institutionen nicht richtig genutzt werden. Persönlich habe ich einige schlechte Erfahrungen, unter anderem mit Klimahaus, gemacht. In den Jahren 2009-2010 wurde in Russland die Gesetzgebung bezüglich der Energieeffizienz von Gebäuden abgeändert, sodass es plötzlich eine Riesen-Nachfrage nach Zertifizierungen und Fortbildungskursen gab. Kapital war und ist vorhanden. Ich habe der Autonomen Provinz einige Vorschläge für kommerzielle Vorhaben und Partnerschaften, unter anderem in Zusammenarbeit mit der Technischen Hochschule St.Petersburg und mit der neugegründeten russischen Energieagentur, unterbreitet, doch wurden alle von Südtiroler Seite abgelehnt. Wenn sich Südtirol nicht für den Hightech-Bereich interessiert, kann es immer noch Äpfel und Wein exportieren und reiche Russen in 5-Sterne-Hotels beherbergen. Alles durchaus in Ordnung, aber dann wäre man Diener, nicht Schöpfer. Will das Land wirklich nichts darüber hinaus tun?
Welche Charaktereigenschaften benötigt man, um sich als Selbständiger in Ihrem Bereich behaupten zu können?
Das ist eine sehr schwierige Frage, weil Erfolg von sehr vielen Faktoren abhängt: von "Vitamin B", zum Beispiel. Für mich sind fachliche Kompetenz, Verantwortung und Ehrlichkeit sehr wichtig. In unserer Welt scheinen diese Eigenschaften jedoch allzu oft eher im Weg zu stehen.
Sie haben einige Jahre in Schweden studiert und gearbeitet. Glauben Sie, dass auch Südtirol vom Schwedischen bzw. Nordischen Modell lernen kann?
Das „nordische Modell“ hat sich in den letzten Jahren sehr stark verändert. Dennoch bleibt in Schweden und in Skandinavien ein verbreitetes Verständnis fürs Allgemeinwohl, das in südlicheren Breitengraden weniger zu spüren ist. Nordeuropa ist evangelisch und Mitteleuropa, wozu Südtirol noch gehört, katholisch. Das erklärt so manches. Ich würde mir schwedische Verhältnisse in der Südtiroler Politik sehr wünschen. Ich fürchte aber, dass man darauf noch lange warten muss.
In welchen Bereichen liegen Ihrer Meinung nach die Stärken Südtirols?
Das Land wurde mit einer unvergleichbaren Schönheit gesegnet. Politisch hat Südtirol gegenüber Italien sehr geschickt gespielt und unvorstellbare Gewinne erzielen können. Jetzt haben sich jedoch die Zeiten geändert: in Südtirol, in Italien und in der restlichen Welt. Ich fürchte, dass das Land für die neuen Spielregeln im globalen Wettbewerb noch nicht bereit ist. Die Russen wollen über Klimahaus und nicht über den Vertrag von Saint-Germain von 1919 sprechen. Zweisprachigkeit wird bald bedeuten, nach Englisch auch Chinesisch beherrschen zu müssen. Übrigens, ich hätte gerne Tolomei beim Chinesisch-Zwangsunterricht gesehen! Da hätte er bestimmt die eigene Lebensaufgabe anders betrachtet. Scherz beiseite, vielleicht bekommen wir noch in einer nicht zu fernen Zukunft asiatische Ortsbezeichnungen. Auf lange Sicht werden nur die anpassungsfähigsten und die am zukunftsorientiertesten Länder überleben. Die nordischen Länder sind auch hier Vorreiter.
Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?
Bisher habe ich das Glück gehabt, mit neuen Fragen und Herausforderungen in interessanten Umfeldern arbeiten zu können. Ich wurde auch nie zu Kompromissen mit meinem Gewissen gezwungen, dafür sind mir wahrscheinlich einige gut dotierte Aufträge entgangen. Ich wäre froh, wenn ich wie bisher weitermachen kann. Dazu ist es auch Zeit, etwas von den eigenen Erfahrungen an die nächste Generation weiterzugeben. Ich bin gerne dazu bereit, sobald sich das passende Umfeld dazu bietet.
Interview: Alexander Walzl