Physiker mit Leib und Seele

Montag, 16.07.2018

Die Wissenschaft ist seine Welt - und seine Leidenschaft. Wie der Algunder Physiker Günther Dissertori nicht nur relevante Forschungsergebnisse erzielt, sondern vor allem Kinder für die Naturwissenschaften begeistern will, erzählt er im Südstern Interview.



Du bist Vorsteher des Institutes für Teilchenphysik und Astrophysik an der ETH in Zürich. Lass uns gleich zu Beginn klären: Worum geht es in der Teilchenphysik?
In der Teilchenphysik wird erforscht, welche die fundamentalen Teilchen bzw. Bausteine der Materie sind und wir untersuchen, welche fundamentalen Kräfte in der Natur wirken. Wir versuchen also die grundlegenden Gesetze der Natur verstehen. 
Dabei schauen wir uns Teilchen an, die noch wesentlich kleiner sind als Atome. Aus unserer Arbeit können wir auch auf die Phänomene am Beginn unseres Universums schließen. Mit Beschleunigern untersuchen wir, was kurz nach dem Urknall passiert ist; denn dieser ergab erstmal eine "Suppe aus Elementarteilchen". Damit erkennen wir also auf Grund unserer Forschungen auch die wichtigen Zusammenhänge zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos.

An der ETH forscht du nicht nur, sondern unterrichtest dort auch.
Richtig. Im Jahr 2001 habe ich den Ruf an die ETH bekommen und habe dort von 2001 bis 2007 als Assistenzprofessor gearbeitet. Seit etwas mehr als zehn Jahren bin ich ordentlicher Professor. 
Meine Vorlesungen unterteilen sich in verschiedene Themen: ich unterrichte in Teilchenphysik, halte aber auch viele Einführungsvorlesungen in Physik für Studienanfänger. An der ETH ist es wichtig, dass sie eine solide Grundausbildung in Physik und Mathematik bekommen.

Gleichzeitig bist du am CERN in Genf tätig. Was geschieht am CERN?
Nun, das CERN ist die "Europäische Organisation für Kernforschung", das weltweit größte Forschungszentrum für Teilchenphysik; dort wird physikalische Grundlagenforschung betrieben. Ich bin dort stellvertretender Leiter eines Großexperimentes, an dem ein Team von rund 4.000 Forschern arbeitet.

Bitte beschreibe deinen Forschungsschwerpunkt kurz.
Wir arbeiten am CERN mit dem weltweit größten Teilchenbeschleuniger. Vor einigen Jahren (2012) wurde in unseren Experimenten ein neues Teilchen nachgewiesen, das Higgs-Teilchen. Dieses Teilchen hatten Forscher schon vor Jahren vorhergesagt und haben für dieses theoretische Vorhersage auch den Nobelpreis im Jahr 2013 gewonnen.
Das Higgs-Teilchen ist deshalb so spannend, weil es extrem wichtig ist in der Natur. Denn durch dieses Teilchen bekommen alle anderen Teilchen erst Masse. Wir untersuchen dieses Teilchen genauer, vermessen es und erforschen auch, ob es weitere neue, derzeit unbekannte Teilchen gibt.
Es ist mir schon klar, dass diese Art der Grundlagenforschung für "normale Menschen" nicht wirklich relevant oder wichtig ist. Dennoch - das zeigt auch die Geschichte - haben Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung immer wieder Auswirkungen auf das Leben vieler Menschen. Wusstest du, dass das World Wide Web am CERN entwickelt wurde? Es sollte eigentlich nur den Austausch von Dokumenten unter Forschung erleichtern - welche gigantische Auswirkung die Entwicklung für die Menschheit hatte, ist ja hinlänglich bekannt.

Du sagst es: Physik ist für die meisten Nicht-Physiker ein unbekanntes und gleichermaßen unergründliches Terrain. Warum ist Physik für viele so abschreckend?
Ich denke, dass man für dieses Phänomen verschiedene Gründe ausmachen kann. Manchmal kommt der Physik-Unterricht in der Schule zu kurz; Lehrer sind nicht in der Lage, Spaß an der Physik zu vermitteln und die richtigen Botschaften zu übermitteln. 
Oft denken Eltern und Kinder, dass man ein "Nerd" sein muss, ein Genie fast, um physikalische Zusammenhänge zu verstehen. Klar, eine gewisse Affinität zu Zahlen und ein gesteigertes Interesse an der Materie sind auf jeden Fall eine gute Grundlage, aber noch lange kein Muss.
Und wir haben ein kulturelles Problem, das schon in den Familien anfängt: Mädchen wird Physik nicht zugetraut. Dabei ist es erwiesen, dass Mädchen und Buben generell dieselben Voraussetzungen haben, denselben Zugang zu den verschiedensten Themen Es gibt natürlich bei jedem Kinder stärker oder schwächer ausgeprägte Talente, aber grundsätzlich gibt es keine Mädchen- oder Jungs-Disziplin.
Die Herausforderung beginnt bereits im Kindergarten; die Betreuer sollten fördern, wenn sich ein Kind für etwas besonders interessiert - egal, ob es ein Junge ist, der mit Puppen spielt oder ein Mädchen, das lieber Autorennen fährt. Ein Bewusstsein in diese Richtung zu bilden, ist wichtig - braucht aber auch viel Zeit.
Später dann - wenn man die akademische Laufbahn betrachtet - ist ein Nachteil für die Frauen nicht zu bestreiten. Denn die Familienplanung beeinträchtigt die Frau mehr als den Mann. Manche Länder greifen hier aber bereits fördernd ein, denn sie wollen "leaky Pipeline", die u.a. wegen der Familienplanung zu Stande kommt, nicht akzeptieren.

Du sagst, die Begeisterung für die Physik soll bereits im Kindesalter vermittelt werden. Wie?
Zum einen, indem man den o.g. Phänomenen entgegen arbeitet. Zum anderen, indem man die Physik zu den Kindern bringt. Ich halte gern und oft Vorträge in Schulen oder bei schulischen Veranstaltungen. Es ist erstaunlich, wie die Schüler reagieren, wenn sie vom CERN oder der ETH - und vor allem von der Forschung, die wir dort betreiben - hören. 
Im Gegensatz zu anderen Kollegen halte ich eher wenig davon, neue Erkenntnisse in den sozialen Medien zu teilen. Ich habe dafür schlichtweg keine Zeit und halte es persönlich auch nicht für nötig, zusätzliche Aufmerksamkeit im Internet zu generieren. Wichtiger ist mir, mit Lehrern zusammen zu arbeiten. Denn sie sind ein guter und wichtiger Multiplikator. Und wenn ich meinen Vortrag in den Schulen halte, habe ich unter Kontrolle, was bei den Kindern ankommt - anders als es in den Social Media geschieht. 
Letztens war ich in Südtirol zu Gast, beim Planetarium in Gummer. Rund 150 Schüler - deutscher und italienischer Schulen - hörten echt gespannt zu. Der Vortrag trug den Titel "Das Unsichtbare sichtbar und das Unmögliche möglich machen". Das entspricht in etwa dem, was wir tagtäglich am CERN machen.
(Anm. d. R.: Hier gibt es die Aufzeichnung des Referates: http://www.sdf.bz.it/Mediathek/(video)/60669).

Wie schätzt du in diesem Zusammenhang medienwirksame Aktionen ein wie z. B. den Flug des deutschen Astronauten Alexander Gerst zur Raumstation ISS im Juni dieses Jahres oder den Stratosphären-Sprung von Felix Baumgartner im Oktober 2012?
Ich kann gut nachvollziehen, dass Astronauten wie Gerst oder auch die Trentiner Astronautin Samantha Cristoforetti ihre Erlebnisse mit der Welt teilen wollen. So können sie auch gute Vorbilder für Kinder sein, denn Faszination zu generieren ist gut.
Der Stratosphären-Sprung war natürlich ein riesiges Spektakel. Ich stehe dem ganz neutral gegenüber: Baumgartner, Red Bull und alle anderen Beteiligten haben zweifelsohne den Menschen ein spannendes TV-Ereignis geboten. Für Baumgartner war es eine gute Mutprobe und bestimmt auch eine sportliche Meisterleistung, eine körperliche Erfahrung, die nur die wenigsten machen. Rein wissenschaftlich können aus der Aktion aber kaum neue Erkenntnisse gewonnen werden.

 
Günther Dissertori vor dem Detektor                     Vorlesung an der ETH
am CERN                                                                     © H. Hostettler, D-PHYS, ETH Zürich


Wie und wann ist das Interesse für Physik bei dir entstanden?
Ich war als Kind schon an Technik und Naturwissenschaften interessiert, auch die Raumfahrt hat mich schon immer fasziniert. Dass ich dann wirklich Physik studiert habe, hat sich eher zufällig ergeben. In der Maturaklasse gab es Studienberatungen und ich wollte eigentlich Gentechnologie zu studieren. Doch in der Beratung wurde klar, dass Grundlage für dieses Studium unter anderem Biologie und Botanik waren. Die Vorstellung, Blumen auswendig zu lernen, war nun wirklich nichts für mich.
Der Studienplan für Physik hingegen hat mir gefallen. Anfangs dachte ich, dass nur Ultragenies Physik studieren. Doch an der Uni habe ich dann gesehen, dass die anderen "auch nur mit Wasser kochen". Im dritten Studienjahr gab es dann ein Programm am CERN, für das ich mich beworben und für das ich ausgewählt worden bin. Ich durfte also schon ganz früh am CERN mitforschen.
Ich habe übrigens ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, Astronaut zu werden. Denn für mich ist das maximale Naturerlebnis, das ein Mensch haben kann, die Erde von außen zu sehen. Anfang der 90er Jahre gab es eine Ausschreibung der italienischen Raumfahrtbehörde, für die ich mich beworben habe. Ich habe tatsächlich die ersten sprachlichen und psychologischen Tests bestanden, konnte aber auf Grund eines Ohren-Leidens die medizinischen Tests nicht bestehen. Es war aber ein interessanter Abschnitt und eine tolle Erfahrung.

Zurück zu deinem Forschungsschwerpunkt: Gibt es schon konkrete Anwendungsbereiche aus den Erkenntnissen der Teilchenforschung?
Nun, die Teilchendetektoren, die entwickelt werden, um eben neue Teilchen zu entdecken und zu erforschen, können auch anderweitig eingesetzt werden. Zum Beispiel, um medizinische Geräte zu bauen. Genauer geht es hier um medizinische Bildgebungsmethoden, wie z. B. die Positronen-Emissions-Tomographie. Diese Methode wird z. B. zur Tumordiagnose eingesetzt oder auch um die Auslöser neurodegenerativer Krankheiten bildgeben darzustellen. Man geht davon aus, dass es im Gehirn Proteinablagerungen gibt, die für Krankheiten wie z. B. Alzheimer verantwortlich sind. Und mit den Geräten können wir dieses Ablagerungen sichtbar machen. Diese Technologie ist also auch - vereinfacht ausgedrückt - ein Scanner für das Gehirn. Mit meiner Forschungsgruppe entwickeln wir derzeit billigere Scanner und vor wenigen Tagen haben wir auch eine Spin-Off-Firma gegründet.

Du pendelst für deine Arbeit zwischen Zürich und Genf. Ist Südtirol Thema für dich?
Meine Familie würde bestimmt gern in Südtirol wohnen. Beruflich ist das Land für mich aber nicht wirklich interessant. Ich möchte nicht falsch verstanden werden, denn in letzter Zeit hat sich in Südtirol sehr viel getan und es ist wahnsinnig viel möglich. Aber in der Physik-Grundlagenforschung gibt es in Südtirol nichts. Ich bin an der besten Universität in Kontinentaleuropa beschäftigt; weltweit rangiert die ETH auf Platz acht. 
Insofern wäre die einzige sinnvolle Möglichkeit in Südtirol, meine akademische Karriere aufzugeben und ein Unternehmen zu gründen. Und dabei müsste ich in einer Nische tätig sein, in einem Bereich, der für Südtirol Sinn macht. Es wäre z. B. sinnlos, in Pharmazie zu machen, wenn der Pharma-Hotspot nun mal Basel ist.
Was ich in Südtirol aber durchaus interessant finde, ist Forschung in den Parade-Disziplinen Tourismus und Landwirtschaft. Der Lebensstandard in Südtirol ist hoch und ich finde, man muss versuchen, ihn langfristig hoch zu halten. Insofern gibt es viel Forschungspotential, wie man Landwirtschaft und Tourismus nachhaltiger gestalten kann - so, dass der hohe Lebensstandard verträglich ist mit dem knappen Raum. Auch Fragen wie jene der Energie-Versorgung und "Energie-Autonomie" finde ich sehr interessant. 
Ich bin gespannt auf die weitere Entwicklung in Südtirol.

Du konzentrierst dich weiterhin auf die akademische Laufbahn. Hast du dich damals auch bewusst für diese entschieden?
Wenn man eine akademische Karriere anstrebt, dann muss man von vorn herein wissen, dass man das möchte. Die Plätze sind beschränkt und es ist total schwierig, sich zu qualifizieren. Ich vergleiche das gern mit dem Sport: Es ist extrem hart, Olympiasieger zu werden. Man muss sich auf das Ziel fokussieren und gezielt darauf hinarbeiten. Natürlich spielt die nötige Portion Glück auch mit - wenn an zum richtigen Zeitpunkt auf die richtigen Menschen trifft, die einen unterstützen, dann ist das schon hilfreich.
Nichtsdestotrotz muss man für das Ziel leben und viel Energie hineinstecken.

Vielen Dank für das Gespräch.
Danke!

Ähnliche Beiträge: