Sich von der Arbeit abzugrenzen wird zuhause schwierig, besonders für Frauen.
Das stimmt. Viele Mitarbeiter*innen haben nicht zu wenig, sondern zu viel gearbeitet. Forscherinnen mussten ihre Publikationstätigkeit extrem reduzieren, weil sie durch die Familie nicht mehr dazu gekommen sind. Sich abzugrenzen muss besonders im privaten Umfeld gelernt sein. Was die Nachhaltigkeitsdiskussion betrifft, sehe ich große Vorteile. Manager sind durch die ganze Welt gejettet, und plötzlich ging vieles auf digitalem Weg. Wir sparen enorme Ressourcen und Lebensenergie, wenn Mitarbeiter*innen nicht zwei Stunden am Tag im Auto sitzen. In der Mixtur des Rezeptes liegt die Lösung.
Wie wird sich die Universität insgesamt verändern?
Es klingt vielleicht paradox, aber die Uni Bozen hat durch Corona einen unheimlichen Innovationsschub hingelegt – und wird sich noch weiter entwickeln. Wir sind gerade dabei, sämtliche Hörsäle in Bozen, Brixen und Bruneck voll digital auszustatten. Unsere Professor*innen werden ab Herbst vor einer leeren Aula ihre Vorlesung halten können. Diese wird dann live gestreamt und kann auch zu einem späteren Zeitpunkt abgerufen werden. Es gibt Vorträge, in denen reines Wissen vermittelt wird, da muss ein Student nicht physisch präsent sein. Labortätigkeiten hingegen müssen vor Ort stattfinden.
Wenig Präsenz, viel digitaler Austausch: Ist das der Plan für den Herbst?
Wir sind immer noch dabei, verschiedene Szenarien durchzuspielen. Sollte sich die epidemiologische Situation nicht verschlechtern, werden wir die Universität für alle neu eingeschriebenen Student*innen öffnen. Erstsemester werden also ein Präsenzstudium bekommen. Studenten*innen des zweiten und dritten Studienjahres hingegen werden viele Vorlesungen online verfolgen. Damit wird die Gesamtzahl an Studierenden, die sich gleichzeitig an der Universität aufhalten, minimiert. Außerdem werden Vorlesungen gestaffelt abgehalten.
Digitale Revolution mit fahlem Beigeschmack? Die soziale Komponente eines Studiums gerät auf diese Weise arg in den Hintergrund.
Das stimmt. Wir müssen aufpassen, nicht in einen Digitalisierungsenthusiasmus zu verfallen. Die Prozesse sind aus der Not entstanden. Sie haben Vorteile, aber wir müssen schauen, die Nachteile abzubauen. An die Uni kommt man, um Menschen zu treffen, Ideen zu entwickeln, sich konkret mit Mitstudenten und Professoren auszutauschen.
Wenn Student*innen Vorlesungen digital verfolgen, ist mehr Selbstorganisation gefragt. Mit der Bologna-Umstrukturierung hat man eigentlich das Gegenteil geschaffen. Eine Kehrtwende?
Selbstorganisation war früher im Studium das Um und Auf. Die Bachelorisierung hat die Universitäten in oberschulähnliche Strukturen verwandelt, die den Studierenden sehr viel abnehmen. Die Universität wird heute als Serviceorganisation gesehen. Wir haben letzthin bei Censis zum vierten Mal in Folge im nationalen Uni-Ranking bis 5000 Studierende den ersten Platz erreicht. Wem alles abgenommen wird, tut sich schwer in der Entwicklung des eigenen Engagements. Es wird in Zukunft sicher mehr auf Selbstständigkeit ankommen. In diesem Punkt wird die Pandemie und ihre Folgen einen Diskussionsprozess auslösen. Die Universität der Zukunft wird eine Mischform haben. Manche Prozesse werden im Netz stattfinden. Aber im Fokus soll weiterhin die Begegnung zwischen den Menschen stehen.