Südtirols künftige Identität: Brücke für Europäismus und Globalisierung
Was wird die Identität Südtirols sein? Multiethnische Gebiete sind die künftigen Brückenköpfe der Globalisierung, meint “Südstern”-Gastkommentator Roland Benedikter
Identitäten haben die paradoxale Eigenheit, dass sie gleich bleiben und sich dabei verändern. Beides: Gleichbleiben und Veränderung gehört zusammen. Ein Mensch sagt zu sich selbst “Ich” ein Leben lang und verändert sich trotzdem alle paar Jahre. Die Südtiroler Trachten sind seit hundert Jahren dieselben geblieben, doch die Träger haben sich verändert. Vor 100 Jahren trug man eine Taschenuhr unter der Tracht; heute hat praktisch jede und jeder ein Smartphone, das in Echtzeit mit der ganzen Welt verbindet. Trotzdem ist kein großer Bruch zwischen Tracht und Träger entstanden; und das ist das Erstaunliche. Das Erstaunliche ist nicht, dass sich alles ständig verändert, sondern dass bei aller Veränderung etwas gleich bleibt – nämlich die Erfahrung des Selbst, wie schon die alten Griechen wussten.
Auch die Identität unseres Landes Südtirol als Ganzes ist im Fluss. Im besten Fall verändert sie sich und bleibt doch dieselbe. Wir sagen immer noch “Südtirol” zu unserem Land und meinen dasselbe wie unsere Väter und Mütter – obwohl ein Aussenstehender das Land meiner Geburt, der 1960er Jahre, in dem heutigen kaum wiedererkennen würde. Zu vieles hat sich modernisiert, zu viel ist erreicht worden. Zu viel hat sich – zum Guten meist – verändert.
Genau darin – im Südtirol, das uns vertraut ist und doch sein Gesicht ständig ändert, in einem neuen Südtirol, das sich abzeichnet und doch dasselbe bleibt - liegt der Schlüssel zur Zukunft. Unser Land darf sich nicht unkontrolliert verändern, sondern muss den Prozess des Wandels bewußt annehmen und aktiv mitgestalten. Es muss sich geistig erweitern, um sich selbst zu finden und es selbst bleiben zu können. Das bedeutet, dass es sich für globale Entwicklungen stärker öffnet; seine Begabungsvielfalt zulässt; die besonderen Talente erkennt und fördert. Es geht darum, den Blick auf die eigenen Ressourcen zu schärfen und den Südtirolerinnen und Südtirolern Entfaltungsfelder und Kreativitätsräume gerade auch für herausragende Leistungen und besondere Fähigkeiten anzubieten, sodass die geistigen Schätze dem Land Südtirol erhalten bleiben und speziell Begabte nicht zur Auswanderung gezwungen sind.
Die Durnwalder-Ära war eine Zeit großartiger Errungenschaften und Zuwächse, die beispiellos sind. Man hat organisiert und gebaut. Die Ära Kompatscher sollte nun eine Ära der Köpfe sein – der besten. Es geht um die Belohnung von Leistung für das Gemeinwohl, um die Förderung nachhaltiger Produktions- und Konsummuster, um kreative Impulse für Innovation und Investition. Um diese Ziele zu erreichen, müssen Pakteleien, Postenschacher und Mehrfachfunktionenkultur einer Rückbesinnung auf den Menschen, auf ursprüngliche Lebenswerte weichen, die das eigentliche Kapital unseres Landes sind, die Südtirol groß gemacht haben. Italien tut sich trotz Reformversprechen mit Meritokratie und fairem Wettbewerb weiterhin schwer – deshalb wandern immer mehr Talente aus Italien ab. Südtirol sollte einen anderen Weg gehen. Die Umfeldbedingungen und die Anforderungen der Zeit sprechen eine klare Sprache. Möglichkeiten sind trotz, oder gerade wegen kleinerer Töpfe gegeben: Im Rahmen des ins Auge gefassten Technologieparks, besserer Begabtenförderung, stärkerer Vernetzung und eines Zentrums für globale Entwicklungen, das für Bozen eine Zukunftschance im Wettbewerb wirtschaftlicher Selbstbehauptung wäre!
Wenn es Südtirol gelingt, die Zeit der Mauern durch die Zeit der Köpfe zu ergänzen, dann kann unser Land zu einer Brücke der Europäisierung und Globalisierung werden. Genau das ist heute und in den kommenden Jahren die Mission multiethnischer Gebiete. Als kleine, überschaubare und gut verwaltete Gebiete können wir nun globaler als die Nationalstaaten sein, weil wir Grenzen von Sprache, Kultur und Nation überschreiten, verwurzelt in unseren Traditionen. Und wir müssen europäischer als die Europäische Union sein, weil wir wissen, wer wir sind und was wir als Minderheitengebiet der friedlichen europäischen Einigung verdanken. Aus dem Geist des Gleichbleibens in der Veränderung - und der Veränderung im Gleichen - Brücke zu sein für Europa und für ein globaleres Bewußtsein: dazu sind wir nun berufen. In dieser Berufung liegt eine Identitätserweiterung. Es ist eine glückliche Berufung: eine Chance auf ein umfassenderes Selbst.
Roland Benedikter forscht an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara und ist Vollmitglied des Club of Rome, einer der wichtigsten wissenschaftlichen Vereinigungen, die seit den 1970er Jahren den Schwerpunkt auf eine gute Gesamtentwicklung der Welt legt.
Beitrag Nr. 1 der Südstern Reihe über "Identität"
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