Intensivmediziner standen noch nie so im Fokus der Wahrnehmung. Wie würdest du den Typus Intensivmediziner beschreiben?
Wir sind die Extremsportler unter den Ärzten. Wir müssen große Verantwortung übernehmen, bereit sein, immer dazuzulernen und Einsatz mitbringen. Wir müssen auch in Grenzsituationen des Lebens aushalten können, Fehler zu machen und mit einer Einschätzung nicht immer richtig zu liegen. Für mich ist die Arbeit auf der Intensivstation neben der Tätigkeit als Anästhesist mein Steckenpferd. Ich liebe die Herausforderung, die sie mit sich bringt und erlebe auch viele Glücksmomente, wenn wir Menschen helfen können. Wir Intensivmediziner haben schon vor Corona immer das Gleiche gemacht: Entscheidungen treffen im Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Aber über den Tod reden die Leute nicht gerne. Und deshalb lag der Fokus der Öffentlichkeit auch noch nicht oft auf der Intensivmedizin.
Blendet unsere Gesellschaft das Ende aus?
In der Begleitung sterbender Menschen inspiriert mich der Film „Der seltsame Fall des Benjamin Button”. Darin entwickelt sich ein Mann vom Greis zum Baby. Wir kennen nur den umgekehrten Weg. Aber am Ende geht es um das Gleiche: Babys können vieles nicht und müssen es erst lernen. Ältere Menschen verlieren irgendwann viele ihrer Fähigkeiten. Aber genau das wollen viele in unserer Gesellschaft nicht annehmen. Der Schluss wird ignoriert.
Ist das überall so?
In Deutschland erlebe ich, wie viel weiter man in den vergangenen Jahrzehnten in der Diskussion um ein selbstbestimmtes Sterben und die Patientenverfügung gekommen ist. Da setzen sich viele Menschen mit Fragen auseinander, wie sie sterben möchten oder wie weit ein Intensivmediziner gehen sollte. Oft drückt uns ein Angehöriger die Patientenverfügung in die Hand und sagt: Mein Vater will nicht künstlich beatmet oder über einen gewissen Punkt hinaus behandelt werden.
Und in Südtirol?
Es passiert immer wieder, dass Angehörige versuchen, jede erdenkliche Therapie herauszuhandeln und mit teilweise allen Mitteln Druck zu machen, und das, obwohl Ärzte oftmals wissen, dass sie das Sterben und damit vor allem das Leiden des Patienten nur hinauszögern. Der liebe Gott wird schon schauen, das ist so ein Satz, der oft fällt. Das stimmt mich mitten in einer Pandemie nachdenklich, wenn mit Ressourcen so umgegangen wird und wir als Ärzte nicht einmal wissen, wie der Patient Lebensqualität für sich definiert. Empfindet er ein Leben mit möglichen bleibenden Gedächtnisbeeinträchtigungen, gelähmt, an der Dialyse oder mit irreversiblen Lungenschäden und dauerhaft beatmet noch als lebenswert? Einige tun es, einige nicht. Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen kann man nicht in dem Moment auf den Tisch legen, wenn der Patient akut in die Intensivstation verlegt wird. Die Gedanken muss man sich vorher machen. Und das muss in Südtirol und ganz Italien noch mehr angestoßen werden.
Kann die Südtiroler Medizin mit der in Deutschland mithalten? Oder ist das ein übertriebener Anspruch für so ein kleines Land?
Die Gehälter sind nicht so unterschiedlich zwischen den Ländern. Ärzte und Pfleger verdienen in Südtirol sogar mehr. Trotzdem muss man klar sagen: Es ist nicht genug. In Südtirol ist das strukturelle Problem größer. Es wurde mehr gespart. Das tötet die Motivation der Mitarbeiter, weil sie Patienten bei dünner Personaldecke nicht optimal versorgen können ohne sich auf Dauer zu verausgaben.
Du hast mit elf Jahren angefangen Schlagzeug zu spielen, bist mit 13 Jahren zum ersten Mal auf der Bühne gestanden und legst seit 29 Jahren auf. Drummer, DJ und Doc - deine drei Elemente zum Erfolg?
Die Musik war immer schon eine große Liebe von mir. Eine Zeitlang stand die Frage im Raum, nur Musik zu machen. Aber dann entschied ich, dass die Musik kommerziell nicht zum Zwang für mich werden sollte. Deshalb habe ich mir lange den Freiraum genommen, Medizin und Musik zu verbinden und Zeiten gehabt, wo ich fast nur studiert habe und andere, wo ich mehr hinter den Turntables stand. Entsprechend länger habe ich eben für das Studium gebraucht, das ich mir durch die Musik selbst finanzieren konnte. Als ich 2010 mein Studium abschloss, hatte ich ein professionelles Management und zwei bis drei Auftritte pro Woche. Heute sind es vielleicht noch drei pro Monat. In normalen Zeiten, versteht sich. Die drei Elemente sind also: Leidenschaft, Zielstrebigkeit… und ein bisschen Talent schadet vielleicht auch nicht.
Siehst du ein Licht am Ende des Corona-Tunnels?
Wir erleben gerade, wie volatil alles ist. Vorzeichen sind schwierig zu deuten. Jeder mischt sich ein, es gibt viel Panik und Hysterie. Es ist richtig, kritisch zu sein, aber wir müssen die Politiker auch arbeiten lassen. Ich hoffe stark, dass wir bis Ende Sommer einen relevanten Teil der Bevölkerung geimpft haben. Die britische Variante wird weiter vorherrschen. Das heißt, dass wir zwischen 80 und 85 Prozent der Bevölkerung impfen lassen müssen, um da hinterherzukommen. Und wir werden dranbleiben und Impfungen anpassen müssen. Ende Sommer könnte es mit den Lockdowns vorbei sein. Ein Moment der Unruhe wird der Herbst sein. Bis Ende November muss Vorsicht gelten. Und wenn die Welle dann nicht kommt, können wir uns entspannen.
Du gehörst zu den Südsternen der ersten Stunde. Was schätzt du an dem Netzwerk?
Uns Südtiroler eint die Herkunft, die eigenständige Geschichte und Kultur. Den Austausch zwischen Südtirolern in der ganzen Welt finde ich grandios. Ich hoffe allerdings, dass die Südtiroler mehr schätzen lernen, welche kulturellen Vorteile sie haben. Das ist oft noch nicht der Fall.
Wie lange bleibst du den Kollegen in Bozen erhalten?
Im Mai bin ich wieder weg. Ich lebe mit meiner Frau und den beiden Kindern in München und bin durch und durch Stadtmensch. Auch wenn ich sehr an Südtirol hänge und meine Wurzeln dort habe, brauche ich die Offenheit, die mir München bieten kann: die kulturelle Vielfalt der Club- und Konzertszene, die Möglichkeit, Kongresse zu besuchen und sofort überallhin unterwegs sein zu können, eben das Gefühl der Internationalität.
Copyright Andrea Pizzini