„Je länger und weiter du weg bist, desto mehr verschwimmt alles“

Freitag, 12.08.2022
Wollen wir Südtiroler immer nur zurück in die Heimat? Diese Frage haben wir Autor und Journalist Lenz Koppelstätter gestellt. Und er hat sie in unserem neuen Südstern-Bookazine beantwortet. Ferragosto – ein passender Moment, um die Kolumne zu lesen.

 

 

Ich wollte nie zurück. Doch ich war immer gern da – für ein paar Tage. Als typischer Ein-paar-wenige-Tage-zu-Weihnachten-daheim-genüsslich-Rumhänger. Es gibt ja nichts Schöneres. Bisschen Skifahren, zu viel Glühwein mit den Schulfreunden trinken, sich von Mama verwöhnen lassen („Es gibt keine Speckknödel da in diesem schrecklichen Berlin, oder?“). Und der Papa hievt einem noch das Carepaket in den Kofferraum. Jedes Jahr nach Weihnachten ein kleiner, persönlicher Rosinenbomber-Moment. 

Ja, wunderbar die paar Tage! Schlafen im Kinderzimmer, Che Guevara schaut einen böse vom Andy-Warhol-Plakat herab an, weil man auf dem besten Weg dahin war, wohin man niemals wollte: auf dem Weg ins antirevolutionäre, langweilige Büroleben. Der Blick von der elternhäuslichen Terrasse über die Apfelbaumplantagen hinüber auf die vollgestopfte Autobahn. Die Erinnerung daran, dass man sich als Kind immer gewundert hat, warum diese Deutschen da immer im Stau stehen. Um zu uns zu kommen? Aber warum eigentlich? Warum bleiben die nicht einfach zu Hause? Warum tun die sich das an? Jetzt verstand man, was man als Kind nicht verstehen konnte, weil für einen als Kind alles so ganz selbstverständlich da ist: Die Schönheit des Orts, in dem man aufgewachsen ist. Dieses Südtirol. Nun verstand man: Es ist hier halt doch ein bisschen schöner als in … äh … you name it!

Geht man als Südtiroler ganz aus Südtirol weg, merkt man erst, wie sehr man Südtiroler ist. Wir witzeln ja immer gern, dass wir Südtiroler uns als den Nabel der Welt verstehen. In Berlin-Kreuzberg in irgendeiner abgefuckten Hinterhofbar merkte ich: Ist ja gar kein Witz! Wir glauben das wirklich. Ich glaube das wirklich. Ich, der ich mich nie „nur“ über mein Südtiroler-Sein definieren wollte. Minderheit und so … nein, kein Italiener … nein, Österreicher auch nicht, ach wurscht!

Weit weg, am Strand von Neuseeland, merkte ich, wie unwichtig dieses Südtiroler-Sein doch ist. Ich überlegte und kam zu dem Schluss, dass es das im Kern gar nicht gibt: das Südtiroler-Sein. Oder was soll ein Salurner Weinbauer mit einem Gsieser Kuhbauern gemeinsam haben? Wenn die beiden eine Flasche Vernatsch zusammen trinken und dann in ihren so wunderschönen und so wunderschön unterschiedlichen Dorfdialekten loslabern, dann verstehen sie nix von dem, was der andere sagt, wetten? Je länger und weiter du weg bist, desto mehr verschwimmt alles. 

 

 

Aber dann packt sie einen halt doch wieder, die Nabelschau. Mich hat sie in jener Kreuzberger Hinterhofbar gepackt. Da hatte der Barista so einen Klang in der Stimme. Bist du Österreicher?, fragte ich ihn. Nein, Südtiroler, antwortete er. Und fing an, automatisch herunterzulabern, was ich auch automatisch immer herunterlabere: Nein, kein Italiener, nein, auch kein … Ich unterbrach ihn. Ich bin Traminer, sagte ich. Er sei Neumarkter, sagte er. Und schon lagen wir uns in den Armen und sind seitdem Freunde. 

Ja, natürlich ist das Blödsinn, wenn man sich so verbrüdert, sagte mir eine Freundin aus Luxemburg an einem anderen Abend in einer anderen Kreuzberger Hinterhofbar. Und natürlich sei das der Beweis, dass auch ich nicht der Nabelschau der Südtiroler entkommen kann, und ich solle mir bitte nichts darauf einbilden. Bildet euch, ihr lieben Südtiroler, bitte nichts auf eure Nabelschau ein, sagte sie mir. Wir Luxemburger machen das nämlich genauso. 

Viele Südtiroler zieht es nach Südtirol zurück. Auch mich hat es erwischt. Keine Ahnung, warum. Ich bilde mir indes ein, ich bleibe nur ein Weilchen. Dann gehe ich wieder. Aber ob ich das wirklich mache? Eigentlich egal. Wichtig ist nur, dass ich – wir! – im Kopf frei sind. Dann sind wir überall frei. In Neuseeland, in einer Kreuzberger Hinterhofbar, in Gsies, in Salurn. In Italien, in Österreich. Freie Südtiroler in aller Welt. 

 

 

LENZ KOPPELSTÄTTER 

findet die unterschiedlichen Biografien der Südsterne spannend und den Austausch mit Südtirolern in aller Welt bereichernd. Es selbst ging zum Studium nach Bologna, München und Berlin. In der deutschen Hauptstadt arbeitete er über zwölf Jahre lang als Reporter und Medienentwickler. Heute lebt er wieder in seinem Heimatdorf Tramin, ist für Magazine wie „Geo“ und „Salon“ in der Welt unterwegs und schreibt Bücher, die regelmäßig auf den deutschen Bestsellerlisten landen („Das dunkle Dorf – Ein Fall für Commissario Grauner“ oder „Hubert Messner – Der schmale Grat“). 

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