Ein Klischee bröckelt

Dienstag, 25.07.2023
Südtirol entwickelt sich unaufhaltsam zur Wissensgesellschaft. Wer oder was kann das noch aufhalten?, fragt Uni-Direktor Günther Mathà. Ein Beitrag aus dem Südstern-Bookazin

 

 

Wer Südtirol von außen betrachtet, mag noch immer das warme Gefühl des sonnigen Urlaubslands mit blühenden Almwiesen auf den Bergen, geschwungenen Weinplantagen im Süden des Landes und traditionellen Spezialitäten wie Speck, Knödel und Gerstsuppe in sich tragen. Es ist ein Sehnsuchtsgefühl, das man auch nicht aufgeben muss. Denn dieses Südtirol, welches insbesondere die vielen erfolgreichen Auslandssüdtiroler im Herzen mit sich herumtragen, gibt es (immer noch) und es vermittelt jenes Heimatgefühl, das uns alle verbindet. 

Doch es gibt auch ein anderes Südtirol, das weniger augenscheinlich ist, sich aber immer stärker in den Statistiken des Landes widerspiegelt und langsam auch in der Wahrnehmung der Südtiroler als beeindruckende Entwicklung ankommt. Es gibt zwei Stoßrichtungen, die ich kurz umreißen möchte. Während hochspezialisierte moderne Industriebetriebe bereits den Siegeszug eingeleitet haben und Südtirols Bruttosozialprodukt mit über 22 Prozent (Vergleich: Land- und Forstwirtschaft 4,9 Prozent) und einer jährlichen Steigerungsrate von 2,3 Prozent (Quelle: ASTAT 19/2021) prägen, bahnt sich im Unterholz, noch nicht gänzlich sichtbar, aber stetig, eine Entwicklung an, die den Weg Südtirols in die Wissensgesellschaft weisen wird. 

Doch bleiben wir kurz beim produzierenden Gewerbe. Hier muss Südtirol jene Bescheidenheit ablegen, die in der Vergangenheit vom Klischee geprägt war, dass wir ein Land für Touristen, Handwerker und Landwirte mit einer allzu aufgeblähten öffentlichen Verwaltung sind. Auf einer Fläche von 7400 Quadratmetern mit rund 500.000 Einwohnern tummeln sich Italiens innovativste Unternehmen, die weltweit exportieren und damit zum Wohlstand des Landes mit dem höchsten Bruttosozialeinkommen Italiens in Höhe von beinahe 46.000 Euro beitragen. 

Südtirol verfügt über einen industriellen Lebensmittelsektor mit hochwertigen, innovativen Qualitäts- und Nischenprodukten, die weltweit exportiert werden. In Südtirol konnte sich zudem der Automotive-Sektor binnen zwei Jahren radikal umstrukturieren und er liefert heute weltweit die Komponenten für die nun anstehende Elektromobilität. Im Bereich der digitalen Bildverarbeitung und virtuellen Darstellung von Inhalten arbeiten innovativste Betriebe mit der Universität und anderen Forschungseinrichtungen zusammen, um produktfähige Innovation für die Zukunft zu schaffen. Die Auflistung könnte ich fortsetzen, doch kommen wir nun zur zweiten Stoßrichtung, die Südtirols Weg zur Wissensgesellschaft radikal ebnen könnte. 

 

Foto: © Freie Universität Bozen

Seit 1997 gibt es in Südtirol eine Universität, und nach der anfänglichen Fokussierung auf den Aufbau des Lehrbetriebs in den ersten Gründerjahren konnte sie sich besonders in den letzten zehn Jahren mit der Entstehung des Technologieparks NOI der innovationsbasierten Forschung widmen. Diese Entwicklung unterstützt Südtirols Industrie, die bereits seit Jahren die oben genannte kritische Masse aufgebaut hat und nun nach neuen Verfahren, Patenten und innovativen Ideen dürstet. Und genau hier setzt jenes Phänomen ein, das von der Öffentlichkeit unterschätzt oder noch unzureichend wahrgenommen wird. 

Südtirol bewegt sich Schritt für Schritt in Richtung Wissensgesellschaft, auf der Grundlage einer klugen Kooperation von Wissenschaft und Industrie. Die finanzielle Grundlage hierfür bildet eine immer größere Bereitschaft der Südtiroler Industriekapitäne, in Forschung und Entwicklung innerhalb und außerhalb des Betriebs mit eigenem Kapital zu investieren. Flankiert wird dies von einer Steigerung der Erfolgsquote bei der Beantragung von Fördergeldern, die über die Südtiroler Schiene der europäischen Regionalentwicklung oder direkt über die Quellen der Europäischen Forschungsförderung (ehemals Horizon 2020, jetzt Horizon Europe) finanziert werden. So konnte die Freie Universität Bozen allein im vergangenen Jahr über acht Millionen Euro an Drittmitteln akquirieren. 

Im Zentrum der Forschungslinse stehen hochaktuelle Thematiken, die die Zukunft nicht nur Südtirols, sondern unseres gesamten Planeten in den kommenden Jahren prägen werden: Wie wird sich die Lebensmitteltechnologie der nahen Zukunft entwickeln müssen, um alle zu ernähren und den Planeten nicht zu überfordern? Welche leitfähigen Materialien und Sensoren werden künftig zum Einsatz kommen, die kostengünstig und nachhaltig sind? Wie wird die Landwirtschaft der Zukunft vorgehen müssen, um sich ressourcenschonend und klimafreundlich nennen zu dürfen? Wie wird die Tourismuswirtschaft der überbordenden Verkehrslawine begegnen, die jeglichen Erholungswert und auch die besuchte Landschaft unwiederbringlich beeinträchtigt. Auch hier könnten die Beispiele fortgeführt werden, wo Südtirols Forschungslandschaft bereits aktiv ist und wachsen will. 

Doch handelt es sich insgesamt in vielen Bereichen mit einigen Ausnahmen immer noch um eine schüchterne Entwicklung, die auch Rückschläge und Misserfolge erleiden könnte, wenn die Entscheidungsträgerinnen und -träger und die Öffentlichkeit nicht erkennen, dass die Erfolg versprechende kritische Masse erst noch geschaffen werden muss. 

Neben einer noch steigerungsfähigen Vernetzung der Forschungspartner mit privaten und öffentlichen Betrieben bedarf es hierfür als „Boost“ einer massiven Steigerung der Fördergelder in den strategisch relevanten Bereichen und der Bereitschaft, auf die Ausgründung von Start-ups und Spin-offs zu setzen. 

Der erste Schritt zur zukunftsfähigen, nachhaltigen und gendergerechten Wissensgesellschaft in Südtirol wurde bereits gemacht. Jetzt gilt es, den zweiten Schritt zu setzen und nicht vor dem eigenen Mut in die Knie zu gehen. 

 

GÜNTHER MATHÀ 

wächst in der Landeshauptstadt auf und glaubt seit Beginn an das Projekt einer Universität in Bozen. Als Mitglied des Gründungsteams der Freien Universität Bozen prägt er die Aufbaujahre der Hochschule und steht ihr seit 2012 als Generaldirektor vor. Zuvor war er als Journalist bei verschiedenen Medien im In-und Ausland tätig. Er studierte Philosophie an der Universität Bologna und hält einen IDM-C in strategischem Management an der ISEAD, Fontainebleau, inne. 

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