Journalismus hat ihn immer schon interessiert

Freitag, 01.09.2023
Sie kommen seltener zu Wort und wenn, werden sie häufig auf ihr Aussehen reduziert: Frauen haben es in den Medien nicht leicht. Stefan Mair kennt die Zahlen hinter diesem Phänomen. Der Südstern arbeitet beim Schweizer Handelsblatt und coacht Redaktionen, die einen besonderen Faktor messen: EqualVoice. Oder mit anderen Worten: wie oft Frauen in den Medien vorkommen. Im Interview erzählt er, warum ihn Start-up-Unternehmerinnen und Unternehmer faszinieren, welche seine bedeutendsten Schritte als (angehender) Journalist waren und was für ein Thema er über Südtirol gerne aufgreifen würde.

 

 

 

Du bist seit sieben Jahren in der Schweiz und arbeitest bei der Handelszeitung. Was reizt dich an Wirtschaftsthemen?

Ich hatte keine besondere Affinität zu diesem Thema. In meiner Ausbildung habe ich für den Wirtschaftsteil von „Die Welt” und „Bild” gearbeitet und bin da hineingerutscht. Das Thema Wirtschaft hat oft ein falsches Image, es geht nicht immer nur um Zahlen, man kann so viele Geschichten über die Menschen und über Unternehmen erzählen. Diese Vielfalt und die Möglichkeiten habe ich aber erst da erkannt.  

 

Was macht für dich eine gute Geschichte aus? 

Ich bin kein Fan von Storys über Zinsen oder darüber, ob die Konjunktur um 0,1 Prozentpunkte rauf- oder runtergeht. Am liebsten erzähle ich Geschichten über Menschen, die innovativ sind und etwas bewegen. 

 

Genau solche Menschen triffst du in upbeat, dem Start-up-Podcast der Handelszeitung. 

Die Begeisterung, die viele Start-up-Unternehmerinnen und Unternehmer haben, ist ansteckend. Die starten mit nichts und bauen praktisch aus der Luft irgendwas Neues auf, die müssen mit so vielen Rückschlägen umgehen. Nach jedem dieser Interviews gehe ich optimistisch aus dem Gespräch heraus. Was solche Leute machen, ist extrem wichtig für die ganze Gesellschaft. 

 

Wenn du deinen Weg zum Journalisten in drei wichtigen Stationen erzählen müsstest, welche wären das?

Während meines Studiums habe ich von Wien aus als eine Art Kulturreporter für den Rai Sender Bozen, heute Rai Südtirol, berichtet. Ich habe hauptsächlich Interviews mit österreichischen Schriftsteller:innen geführt und auch mit Südtiroler:innen, die in Wien arbeiten. Mit dem Mikrofon durch Wien zu gehen und spannende Leute zu treffen, war ein wichtiger erster Schritt für mich. Dann würde ich die Axel-Springer-Journalistenschule nennen, an der ich die Ausbildung zum Journalisten absolviert und nicht nur die Grundlagen des Handwerks gelernt habe, sondern auch, wie die unterschiedlichsten Bereiche bespielt werden – on- und offline. Und dann das EqualVoice-Projekt bei Ringier in Zürich. Da vermischen sich ganz viele Bereiche mit Journalismus: Technologie, Gleichstellung, Diversity. 

 

Wann war für dich klar, dass du Journalist werden willst?

Eigentlich wollte ich Schauspieler werden. Nach der Oberschule habe ich mich an verschiedenen Schauspielschulen beworben, aber ich wurde nicht aufgenommen. Warum Journalismus? Es ist ein Bereich, der mich immer schon extrem interessiert hat. Ich habe schon früh alles gelesen, was ich so in die Hände bekommen habe; Schreiben war immer ein großes Interesse von mir. Und so habe ich mich für diese Schiene entschieden. 

 

Hat die Schauspielerei noch einen Platz in deinem Leben?

In der Oberschule haben wir extrem viel Theater gespielt und jedes Jahr ein großes Stück inszeniert. Das war eine große Leidenschaft in den fünf Jahren… Aber im heutigen Leben spielt es keine aktive Rolle mehr. Als Zuschauer gehe ich aber nach wie vor gerne ins Theater. 

 

Wie schätzt du die Rolle des Journalismus in der heutigen Zeit ein?

Das Berufsbild hat in den vergangenen Jahren an Attraktivität verloren. Die Medien sind in der Krise, es gibt immer weniger Bewerber an Journalistenschulen. Dabei ist es ein privilegierter Beruf. Wo kann man sonst jedem wirklich jede Frage stellen? Als Journalist hat man so einen natürlichen Zugang zu verschiedenen Leuten und das Privileg, mit jedem zu reden und jeden auch mit Dingen zu konfrontieren. 

 

 

Foto: © Stefan Gräf

 

Du teilst deine Tätigkeit auf zwischen der Redaktion und dem Projekt EqualVoice. Was ist das genau?

Das ist eine KI-Technologie, die innerhalb von Ringier entwickelt worden ist. Der Equal-Voice-Faktor analysiert jeden Artikel, der in einem Medium erscheint und wertet aus, wie das Geschlechterverhältnis in einem Artikel ist. Dadurch bekommt jedes Medium, das darauf setzt, eine neue Kennzahl für seine Arbeit. Redaktionen analysieren ja alles Mögliche: Klicks, Traffic, Verweildauer, um nur einige zu nennen. Unser Ziel ist, mit Equal-Voice eine neue Kennzahl in die Redaktionen zu bringen, die die Sichtbarkeit von Frauen in den Medien abzeichnet. Das ist auch bitter notwendig: Im Moment handeln 80 Prozent der Medienberichte von Männern, für Frauen ist ein extrem kleiner Teil reserviert.  

 

Warum ist das so?

Das hat verschiedene Gründe. In manchen Bereichen arbeiten wenige Frauen, trotzdem sind sie unterrepräsentiert. Ein Beispiel: Bei der Handelszeitung hatten wir fast 90 Prozent Männer in den Berichten. Die Frauenquote in Verwaltungsräten liegt in der Schweiz bei 30 Prozent. Das heißt, wir haben nicht die Realität abgebildet. Wir nennen das den Visibility Gap. 

 

Es geht also gar nicht darum, eine 50:50-Situation herzustellen?

Das ist ein wichtiger Punkt. Die Hälfte wäre falsch, weil das nicht die Realität darstellt. Jede Redaktion, die den Faktor anwendet, setzt sich andere Ziele. Bei der Handelszeitung haben wir uns zum Beispiel 30 Prozent vorgenommen, das heißt, von zehn Gesprächspartnern, sollten mindestens drei Frauen sein. Das haben wir teilweise erreicht, dann sind wir auch wieder ein Stück runtergerutscht. Der Faktor zeigt den Rückgang an oder Phasen, wenn Frauen wieder aus der Berichterstattung verschwinden wie letzthin. Zum Krieg in der Ukraine oder zu Energiethemen werden hauptsächlich Männer interviewt, obwohl genauso viele Frauen Expertise haben. 

 

Wie viele Redaktionen haben die Anwendung mittlerweile implementiert?

Inzwischen sind es 32 in ganz Europa. Wir sind dabei, den Rollout in verschiedenen Ländern zu begleiten, wir waren kürzlich in Warschau und in Kroatien. Meine Rolle ist, das am Anfang zu begleiten und zu erklären, wie EqualVoice in den Newsroom integriert wird.

 

Provokante Frage: Wollen Frauen überhaupt gleich häufig in den Medien erscheinen wie Männer?

Als wir mit dem Projekt starteten, sagten viele Journalisten, dass es viel länger dauert, bis Frauen einem Interview zustimmen als Männer. Kollegen bemängelten, dass Frauen immer genau wissen wollen, welches Foto verwendet wird und in welchem Kontext. Dann haben wir die Expertinnen, die wir auf unserer Interviewliste hatten, gefragt, warum das so ist. Die Antwort war sehr oft: Weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben etwa durch die Reaktionen auf Interviews in den Kommentarspalten. Oder sie wurden auf Social Media attackiert, wo es nicht darum ging, was sie gesagt haben, sondern ausschließlich um ihr Aussehen. Da kamen dann Aussagen wie: Es ging nicht um mein Thema; ich sehe nicht ein, warum ich mir das ein weiteres Mal antun sollte. Deshalb ist unsere Message: Ja, es dauert länger, Frauen für ein Interview zu kriegen, aber nehmt euch die Zeit. Frauen wollen vielleicht Informationen zum Kontext und die sollten sich Journalist:innen auch nehmen. Und: Es ist unsere Aufgabe, etwaige Kommentare auch zu moderieren. Man kann nicht auf Facebook 100 Kommentare zur Figur stehen lassen. 

 

Es geht also um ein strukturelles Problem. 

Sicher geht es auch um die Sichtbarkeit von Frauen in den Newsrooms. EqualVoice ist nicht nur dieser Faktor, am Ende geht es auch darum, wie wir die Newsrooms fairer machen können. Leute, die in Sitzungen stiller sind, bringen ihre Themen fast nie in die Zeitung. Es geht grundsätzlich um die Frage, wie wir Systeme schaffen können, um die zurückhaltenden nach vorne zu bringen. Wir beobachten etwas ganz Interessantes: Wenn die Redaktionen mit EqualVoice starten, gibt es zunächst einen Aufschwung. Alle denken daran, eine eigene Expertinnenliste wird gepflegt, die Werte steigen. Dann bleibt es lange stabil und irgendwann rutscht es wieder ab. Die Credit-Suisse-Krise, wo sämtliche Akteure Männer sind, hat natürlich wiederum Frauen aus der Berichterstattung gedrängt. Aber das ist nicht der einzige Grund und auch keine Ausrede: Natürlich kann man mit Expertinnen gegensteuern. Es geht auch darum, aus der Routine auszubrechen und sich die Frage zu stellen: Wer hat dazu auch etwas zu sagen und wurde bisher noch nicht gehört?

 

Hat dich Gleichberechtigung immer schon interessiert? 

Als ich vor zehn Jahren im Journalismus angefangen habe, hat das Thema noch keine so große Rolle gespielt. Trotzdem habe ich gesehen, wie Kolleginnen ausgestiegen sind, weil die Kultur für sie in dem Umfeld nicht gestimmt hat. Ich denke, es ist uns oft nicht bewusst, wie sehr die männlich geprägte Hierarchie alles bestimmt und welchen weiten Weg man da noch zu gehen hat. Jeder ist für Gleichstellung und mehr Diversität, aber wenn man sich die Chef- und Führungsrollen anschaut, sind Frauen immer noch extrem unterrepräsentiert. Das ist nicht mein Wertesystem. Da möchte ich meinen Beitrag leisten. 

 

Du lebst seit sieben Jahren in der Schweiz. Wie ist dein Bezug zu Südtirol?

Ich bin sehr oft hier. Auch die hiesigen Medien konsumiere ich regelmäßig. Die Tagesschau am Abend: mein Ritual. 

 

Kannst du dir vorstellen, nochmal zurückzukommen?

Remote arbeiten ist heute kein Problem mehr, da hat auch die Pandemie dazu beigetragen. Manche meiner Kollegen arbeiten zur Hälfte in der Redaktion, den Rest der Zeit von daheim aus. So könnte ich es mir irgendwann auch vorstellen. 

 

Welches Buch über Südtirol würdest du gerne schreiben?

Wie sehen unsere Nachbarn das Land? Südtirol von außen zu betrachten, das finde ich spannend.  

 

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