Migration, Klima, Pandemie, Kriege: Inwieweit tragen aktuelle Ereignisse dazu bei, wie wir unsere Zukunft sehen?
Der Mensch lebt in drei Körpern, in drei Kokons. Erstens in der nackten Tatsache seiner Existenz. Wir sind grundsätzlich dauernd mit einer einzigen großen Frage beschäftigt: der nach dem eigenen Tod. Diese Frage lebt in unserer DNA, unserem Sein selbst, sie ist unsere Naturexistenz, und sie bedingt unsere Realitätserfahrung, unsere Menschlichkeit und unsere Ethik. Deshalb schauen wir grundsätzlich immer voraus, wenn auch sehr viel unbewusst. Der zweite „Körper“ ist die eigene Psyche. Manche sehen die Zukunft eher ängstlich, andere positiv – das hängt mit der Erziehung und dem eigenen Charakter zusammen. Und als dritte Komponente spielt hinein: die Lebenssituation. Da spielen Ereignisse von außen, auch in Gestalt der Nachrichten in den Medien, heute eine große Rolle. Heute ist es durch die neuen Kommunikationsmittel, die dauernd die ganze Welt in Echtzeit vermitteln, so, dass Menschen ihre Ängste und Hoffnungen bezogen auf die Zukunft viel stärker als früher mit Weltereignissen verbinden. Nie also waren Weltereignisse wie Klimafrage oder Kriege so wichtig wie heute, wenn es um das Erleben von Zukunft geht. Das hat seine Vor- und Nachteile.
Gibt es einen Zukunftstrend, den du als besonders wichtig erachtest?
Wenn man von Zukunft spricht, gibt es sechs Dimensionen, auf die man schauen muss: Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion, Demografie und Technologie. Erst sie alle zusammen ergeben die siebte Dimension, die wir eigentlich verstehen wollen und müssen: die bewegte Gesellschaft, die nie stillsteht. Also das Etwas, den Prozess, der aus Menschen besteht, aber oft auch Menschen auffrisst, um sich zu ernähren, also das, was wir in der Philosophie den „Leviathan“ der Gesellschaft nennen. Zwei der sechs Dimensionen stechen heute heraus und haben eine gewisse Führungsrolle: Demografie, also wie sich unsere Gesellschaft in Alterspyramide und Migration verändert. Und zweitens, als wahrscheinlich wichtigste Dimension: Technologie.
Warum ist Technologie die wichtigste Dimension?
Künstliche Intelligenz in Form von Chatbots zum Beispiel wird unsere Gesellschaft in den kommenden Jahren so massiv und tiefgründig verändern, wie wir es auch aus den umbruchstärksten Zeiten nicht gewohnt sind. Die daraus resultierende Automatisierung wird den Verlust von bis zu 600 Millionen Arbeitsplätzen in den Demokratien bedeuten. Das wird unsere Gesellschaft zu einer Neuordnung zwingen, die auch Gutes haben kann. Es müssen in den kommenden Jahren Fragen verhandelt werden, wem die Profite der Maschinen gehören und wie die Realität dem Menschen überhaupt erscheint, wenn es zum Beispiel „augemented reality“ und „eingebettete Holographie“ im Alltag geben wird. Irgendwann wird es möglicherweise ähnlich viele künstliche Intelligenzen wie Menschen geben. Dann entsteht eine Welt, die sich von der aktuellen stark unterscheiden wird. Wir sind gut beraten, mit der Gestaltung dieser Welt zu beginnen, bevor sie sich realisiert. Dann haben wir es nämlich mit selbst in der Hand.
Große Krisen hat die Zukunftsforschung meist nicht vorausgesagt. Weil am Ende doch immer alles anders kommt als gedacht?
Die Achillesferse der Zukunftswissenschaft liegt ganz einfach darin, dass sie versucht, über einen Gegenstand zu forschen, den es per Definition nicht gibt. Das Wesen der Zukunft ist, dass sie noch nicht existiert. Es gibt keine andere Wissenschaft, die als Gegenstand etwas hat, was nicht existiert. Das bewirkt, dass wir uns eigentlich immer mit Projektionen aus der Gegenwart beschäftigen – mit Vorstellungen vom Künftigen im Hier und Jetzt. Das heißt nicht, dass man mit der Zukunft nicht arbeiten kann. Man versucht vielmehr, über Untersuchungen der Vorstellungen über sie im Hier und Heute an ihren Kern heranzukommen, sie vorwegzunehmen. Damit kommen wir dann auch schon zur größten Stärke der Zukunftsforschung: Antizipation. Indem wir Dinge in unserer Vorstellung vorwegnehmen, erzeugen wir sie auch schon mit.
Stichpunkt Antizipation: Was bedeutet die Zukunft für unsere Demokratie?
Ich würde im Moment zwei große Stränge sehen. Erstens sind heute viele verschiedene Zukunftsthemen gleichzeitig da, die alle unterschiedlich ausschauen und unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten folgen. Klima, Frauenfrage, Technologie und Gleichstellung, um nur vier zu nennen – sie beeinflussen sich gegenseitig in komplexen Weisen, was überfordern kann. In der Überforderung suchen die Menschen in ganz verständlicher und natürlicher Weise Vereinfachung, Komplexitätsreduktion, was an sich völlig richtig ist. Politisch kann sich das aber so auswirken, dass besonders einfache Parolen attraktiv scheinen. Sie vereinfachen manchmal manipulativ. Zu viel Vereinfachung ist für die Demokratie nicht gut. Die Antwort: Wir brauchen Hilfe für die Bürger bei der Navigation hochkomplexer Zukünfte, und das haben wir bislang sehr vernachlässigt.