„Ein wahnsinnig schönes Handwerk“

Freitag, 23.08.2024
Wenn es um die Wirbelsäule geht, blüht Südstern Ines Unterfrauner förmlich auf. Die 33 Knochen im Rücken des Menschen, die Bandscheiben, Bänder und dazwischenliegenden Nerven sind ihr Spezialgebiet. Im Gespräch erzählt die Oberärztin, warum es ihr ein Anliegen ist, Frauen für die Forschung zu begeistern und warum sie an ihrem Beruf besonders das Arbeiten unter Druck liebt.


 

Medizin und Musik – das sind deine zwei Leidenschaften. Passen die beiden auch zusammen?

Und wie! In meiner Diplomarbeit habe ich mir die Musikneurologie angeschaut. Musik beeinflusst ganz viele, vor allem neurologische Erkrankungen. Viele Mediziner sind Musiker, so wie ich. Im Wirbelsäulenteam an der Klinik in Zürich spielen alle ein Instrument. Also einen Zusammenhang scheint es zu geben. 


 

Während der Oberschule hast du das Konservatorium besucht. Wie schwer fiel die Wahl zwischen der Wissenschaft und der Kunst?

Mein Hauptfach am Konservatorium war Geige, im Nebenfach habe ich Klavier und Bratsche gelernt. Zwei- bis dreimal in der Woche bin ich dafür von Bruneck nach Bozen gefahren, das prägt natürlich. Im Realgymnasium hat sich mein Interesse an der Wissenschaft immer mehr gebildet, und am Ende hat mich die Medizin einfach ein Quäntchen mehr interessiert. Die Musik habe ich bis heute nicht aufgegeben, in der Freizeit spiele ich immer noch gerne, zum Beispiel mit den Arbeitskollegen in Zürich oder als Mitglied im Orchester des Stadtpfarrchors in Bruneck. 


 

Dein orthopädisches Fachgebiet ist die Wirbelsäule. Was hat dich daran gereizt?

Für mich war während des Studiums relativ schnell klar, dass ich ein operatives Fach machen möchte. Auch durch verschiedene Praktika in Südtiroler Krankenhäusern bin ich auf die Orthopädie gekommen, weil mich die Biomechanik interessiert. In der Facharztausbildung rotiert man dann durch alle Bereiche und während andere beim Knie oder der Schulter ein Aha-Erlebnis haben, war es bei mir die Wirbelsäule. Die Chirurgie in diesem Bereich ist ein wahnsinnig schönes Handwerk, vor allem auch durch die Operationen, die man durchführen kann. Dass ich dazu beitragen kann, Probleme zu lösen, die Menschen echt einschränken, gefällt mir besonders. Und auch, dass es ein Fach ist, wo man unter Druck sehr ruhig bleiben und die Entscheidungen überlegt treffen muss, weil man im Millimeterbereich zwischen Gefäßen und Nerven arbeitet. 


 

Ruhig bleiben unter Druck: Kann man das oder lernt man es?

Ich begegne dem in meinem Beruf täglich und darf es auch immer wieder trainieren. In der Wirbelsäulenchirurgie führt man die Operationen meist zu zweit und im Team durch, auch das hilft dabei, mit Druck umzugehen. Manchmal geht es in unserem Beruf um schnelle Entscheidungen, etwa wenn Patienten kommen, die einen Unfall hatten oder wenn Tumore das Rückenmark und die Nerven verlegen. 


 

Der Rücken drückt: Das kennen viele Menschen. Täuscht der Eindruck oder nehmen die Leiden zu?

Über 80 Prozent der Menschen leiden zumindest einmal in ihrem Leben an Rückenschmerzen. Die derzeitige Lebensweise besteht überwiegend aus Sitzen und häufig fehlt die Bewegung, was Rückenschmerzen zudem verschlimmern kann. 


 

Ein großer Teil deiner Arbeit ist die Forschung. Wie kam es dazu?

Während der Facharztausbildung in Zürich bin ich auf das Förderprogramm für talentierte „Physician Scientists" der Universität Zürich gekommen. Es heißt „Filling the Gap“ und hat vor allem das Ziel, Frauen, die in der Klinik tätig sind, dabei zu unterstützen, dass sie Klinik und Forschung miteinander verbinden können. Durch diese geschützte Zeit, die Frauen Forschung ermöglichen soll, konnte ich in das Thema eintauchen, verschiedene Fragestellungen bearbeiten und zusammen mit der ETH und der Uni Zürich Studien durchführen und dann auch mit Forschern und Klinikern international an Kongressen in den Austausch gehen. 


 

Mit welchem Ergebnis?

Eine meiner klinischen Studien hat erstmals den Effekt der Anwendung einer Akne-Creme vor Operationen an der Schulter untersucht, da bei Schultergelenksoperationen Akne-Bakterien ins Operationsfeld gelangen und verheerende Infektionen des Schultergelenkes verursachen können. Die im Schulterbereich aufgetragene Akne-Creme vor dem Eingriff konnte die Bakterienzahl relevant reduzieren. Die Studie wurde in einem renommierten Journal für Schulterchirurgie veröffentlicht und mit drei Preisen ausgezeichnet, darunter dem Preis der Amerikanischen Gesellschaft für Schulterchirurgie für die beste orthopädische Arbeit, da eine Bakterienreduktion und somit Vorbeugung vor Infektionen für den Patienten von bedeutender Relevanz ist. 


 

Die Medizin wird immer weiblicher. An vielen Unis studieren mehr Frauen als Männer. Trotzdem sind in Führungspositionen und auch in der Forschung häufiger Männer ganz vorne. Müssen sich Frauen immer noch mehr beweisen?

Ich bin im Vorstand der Vereinigung der Schweizer Orthopädinnen. Wir haben diese Fragestellung tatsächlich betrachtet und Studien dazu gemacht. So wurde zum Beispiel die Geschlechterverteilung beim Studium analysiert, wo der weibliche Anteil in der Schweiz bei über 60 Prozent liegt. In der Facharztausbildung in den Bereichen Unfallchirurgie und Orthopädie hingegen sind es nur noch 30 Prozent Frauen. Und wenn man sich die Chefposten anschaut, nur noch weniger als zehn Prozent. Der Trend ist aber steigend. Im Bereich der Forschung ist es übrigens ähnlich wie im klinischen Kontext: Frauen sind auf Kongressen unterrepräsentiert, sie gewinnen auch deutlich weniger Preise. 


 

Wieso ist das so? An  der Leistung kann es nicht liegen. 

Vor allem drei Gründe stechen heraus, warum Frauen die Orthopädie eher meiden. Einmal, weil mehr Kraft benötigt wird. Die Operationen dauern sehr lange, wir arbeiten mit Hammer und Meißel. Sicher hat eine Frau aufgrund der Konstitution da etwas schlechtere Karten. Aber das kann man alles mit Technik und Übung kompensieren. Ein weiterer Grund ist die Work-Life-Balance, die in diesem Bereich für Frauen herausfordernder ist. Stichpunkt lange Operationen von mehreren Stunden. Und dann fehlt auch oft das Mentoring und die Vorbildfunktion. Der Start der Medizinuni in Bozen ist hier sicher eine tolle Möglichkeit, die Exposition zu dem Fach schon während des Studiums anzubieten, damit Studentinnen auch einen Zugang dazu finden. Prinzipiell finde ich, dass das Geschlecht keinen Einfluss auf irgendwelche Entscheidungen im Leben haben soll. Ein Oberarzt hat einmal zu mir gesagt: Die Männer überschätzen sich und die Frauen unterschätzen sich. Da ist vielleicht auch etwas Wahres dran. 


 

Stichpunkt Meduni Bozen: Wie siehst du Südtirol als Medizinstandort?

Südtirol hat ein genügend großes Einzugsgebiet und geschaffene Infrastruktur und sehr motivierte Spezialisten im In-, aber auch im Ausland, die an diese Zentren geholt werden könnten, um in Südtirol für die Bevölkerung die optimale Versorgung anbieten zu können. 


 

Was macht die Schweiz im Moment zum Ort deiner Wahl?

Im Rahmen meiner Ausbildung habe ich einige Stationen gesehen, in Österreich, Deutschland, Südafrika. Das Ausbildungssystem in der Schweiz ist sehr strukturiert. Das finde ich gut. Schon während des Studiums kann jemand viele Tätigkeiten und auch Verantwortung übernehmen. Man wird strukturiert an ein Fach herangeführt, dieser Prozess wird streng überprüft, aber dann darf man es auch ausführen. Das hat mich überzeugt, hier meine Ausbildung zu machen. 


 

Wie oft kommst du noch nach Gais? 

Mein Alltag in Zürich besteht vor allem aus Arbeit. Die Forschung läuft ziemlich in der Freizeit ab. Da bin ich flexibel und arbeite auch oft am Wochenende daheim. Ich bin an den Wochenenden sehr oft in Südtirol. 


 

In Südtirol ist die Angst vor der Zweiklassenmedizin im Moment so groß wie nie zuvor. Wie erlebst du das in der Schweiz?

Ich arbeite an der Universitätsklinik Balgrist in Zürich. Sie ist aber privat geführt, von daher sehe ich beides. Das System ist in der Schweiz darauf ausgelegt, dass wirklich jeder Zugang zum Gesundheitssystem und -wesen hat. Die Entscheidung, sich privat versichern zu lassen, bringt vielleicht beim stationären Aufenthalt gewisse Vorzüge. Diese Entscheidung trifft jeder für sich selbst. Aber in der medizinischen Versorgung gibt es keinen Unterschied. 


 

Was sind deine Ziele in den nächsten fünf Jahren?

Einmal möchte ich in der Wirbelsäulenchirurgie noch weiter Erfahrung sammeln und dazulernen. Ich habe noch viele Pläne im Kopf, die ich umsetzen und noch erreichen möchte. Man wird sehen.


 

Wie erlebst du als Dozentin die aktuelle Generation von StudentInnen? 

Sie sind motiviert, wollen viel lernen und sind sehr praxisorientiert. Schon während des Studiums fragen sie sich, ob sie etwas anwenden können bzw. ob sie es überhaupt brauchen. Und ich merke, dass sie Vorbilder suchen. 


 

Immer mehr Bürokratie: Ist das auch in der Schweiz ein Thema? 

Bürokratie und Administration werden immer mehr und es bleibt oft auch immer weniger Zeit für die Patienten. Trotzdem versuche ich, mir diese zu nehmen. Weil man da ganz wichtige Dinge erfährt, wie man am besten helfen kann. Und das gibt einem selbst extrem viel. 


 

Vorhin hast du von Work-Life-Balance gesprochen. Bei dir klingt es nach viel Arbeit und wenig Freizeit… 

Ich glaube, man gewöhnt sich daran, viel und lange zu arbeiten. Ich habe das sicher immer gesucht und brauche das auch. Wobei das Abschalten und auch mal was anderes zu tun auch ganz wichtig ist. Sportliche Aktivitäten zu suchen, Zeit mit Freunden und Familie und die Partnerschaft sind ganz, ganz wichtig. 


 

Dein Lebenslauf ist beeindruckend. Beste Maturantin in Südtirol 2011, Konservatorium, Studium mit Auszeichnung, Uni-Dozentin, Forscherin, Wirbelsäulenexpertin. Gibt es etwas, wo du in deinem Leben an deine Grenzen gestoßen bist?

Ich versuche bei meiner Arbeit sowohl in der Behandlung von Patienten als auch in der Forschung stets mein Bestes zu geben, mitunter erreiche ich dabei auch meine Grenzen. Dabei habe ich gelernt, zu akzeptieren, dass es diese Grenzen gibt. 


 


 


 


 


 


 

Tags

Musik
Medizin
Forschung
Interview
Erfolgsgeschichten

Ähnliche Beiträge: