"Hier in Shanghai leben Ein-Kind-Familien und Großeltern fast immer unter einem Dach."
Evi Zierlein Anstead lebt seit 2007 in Shanghai und ist hier nun als interkulturelle Trainerin und Beraterin beschäftigt. Im Interview erzählt sie von den Kulturunterschieden zwischen China und Europa, dem chinesischen Schulsystem und den Vorteilen Shanghais.
1. Was unterscheidet Deutsche und Chinesen kulturell und wo kommt es leicht zu Missverständnissen?
Der indirekte Kommunikationsstil der Chinesen ist sicherlich einer der Hauptgründe für Missverständnisse mit Europäern, die doch eher dazu tendieren, ihre Meinung klar auszusprechen. Im Geschäftsleben kann die Beziehungsorientierung der chinesischen Seite, d.h. das Bedürfnis, mit einem potentiellen Partner zuerst eine Freundschaft aufbauen zu wollen, bevor man Geschäfte macht, zu Problemen führen, da es einem Deutschen wohl meist lieber ist, schnell zur Sache zu kommen. Große Schwierigkeiten bereitet auch die Bedeutung des Vertrages. In China wird dieser nicht als Endergebnis einer Verhandlung, sondern eher als Ausgangspunkt für mehr Verhandlungen angesehen, dem geschriebenen Wort wird einfach nicht so große Wichtigkeit beigemessen wie in Europa. Auch legen wir in Europa viel mehr Wert auf Individualität, während ein typischer Chinese sich immer als Teil einer Gruppe sieht. Dies sehe ich auch bei meinen Trainings, wenn sich die chinesischen Teilnehmer erst dann wohlfühlen, wenn sie sich mit anderen Teilnehmern identifizieren können. Es sind also jene kulturellen Unterschiede, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind, welche zu den meisten Missverständnissen führen.
2. Gibt es eine europäische und chinesische Art Kritik zu äußern und Konflikte zu bewältigen?
In China wird Kritik prinzipiell nicht direkt geäußert, vor allem dann nicht, wenn es sich um Kritik an Ranghöheren handelt, da hier ein sehr starkes Hierarchieempfinden besteht. Es wird implizit vorausgesetzt, dass der Gesprächspartner den Kontext des Gesagten versteht. Zudem gibt es in China keine Streitkultur im europäischen Sinne, sondern es wird Wert auf das Bestehen von Gleichgewicht und Harmonie bzw. auf deren Wiederherstellung gelegt. Diese Lebensauffassung hat ihre Wurzeln in den Lehren Konfuzius und wird bereits den Kindern beigebracht. Harmoniefähigkeit - und nicht Konfliktfähigkeit - steht im Mittelpunkt der Erziehung.
3. Was hat Sie nach China geführt und seit wann sind Sie hier tätig?
Nach meinem Dolmetscherstudium erhielt ich 1997 ein Jobangebot in England, wo ich bis 2004 arbeitete. Danach war ich drei Jahre lang in Norwegen tätig und landete 2007 durch die Arbeit meines Mannes hier in Shanghai. Vor knapp zwei Jahren ließ ich mich zur interkulturellen Trainerin ausbilden und arbeite seither auf diesem Gebiet.
4. Schanghai gilt als ziemlich modern und liberal: Fühlt sich die Metropole eigentlich wie China an?
Schanghai war schon immer jene Stadt Chinas, die dem Westen gegenüber am offensten eingestellt war, denn bereits in den 30er Jahren gab es hier 30.000 Ausländer. Shanghai symbolisiert eindeutig den rasanten wirtschaftlichen Aufschwung des Landes, aber es gibt auch hier noch ganz viele Ecken – auch in der Innenstadt – wo man denkt, dass die Zeit stehen geblieben ist.
5. Internationale Schulen liegen auch in China im Trend: Wohlhabende Familien ersparen ihren Sprösslingen durch den international anerkannten Abschluss die Gao Kao, die hoch kompetitive chinesische Hochschulaufnahmeprüfung. Gibt es Ihrer Meinung nach auch ideologische und kulturelle Unterschiede zwischen beiden Systemen?
Es gibt Riesenunterschiede. An chinesischen Schulen wird nach wie vor sehr viel auswendig gelernt. Es geht nicht so sehr um das Verstehen, sondern vielmehr um das Können. Selbst Freizeitaktivitäten werden nach dem Kriterium ausgewählt, wie viele schulische Vorteile sie dem Schüler bringen. Man schwimmt z.B. nicht zum Spaß, sondern um an Wettkämpfen teilzunehmen. Doch auch wenn chinesische Kinder internationale Schulen besuchen, so hat das nicht immer damit zu tun, dass sich die Eltern eine ganzheitliche Erziehung ihres Nachwuchses wünschen, sondern oft damit, dass sie sich größere Chancen für das spätere Leben ihres Kindes, wie einen Studienplatz im Ausland, versprechen. Somit ist der Leistungsdruck auch an internationalen Schulen, an denen der Anteil an asiatischen Schülern oft über 50 % liegt, enorm hoch. Ich kenne Oberschüler an internationalen Schulen, die bis um 23 Uhr büffeln, dann ein paar Stunden schlafen und mit Hilfe von Red Bull oder grünem Tee sich um 4 Uhr morgens wieder an den Schreibtisch setzen.
6. Wo wird die Armut in Schanghai sichtbar?
Armut kann man eigentlich an jeder Straßenecke sehen. Es gibt hier in Shanghai keine offizielle Mülltrennung, dafür gibt es Menschen, die Mülltonnen nach wiederverwertbaren Materialien durchwühlen, diese dann verkaufen und damit ihren Lebensunterhalt verdienen. Ich unterrichte zudem einmal wöchentlich an einer Schule für Wanderarbeiterkinder und hier wird sehr deutlich, wer zur armen Schicht in Shanghai gehört. Viele dieser Kinder wohnen in Wohnungen ohne fließendes Wasser und mit Gemeinschaftsküchen.
7. Wovor müssen sich vor allem ortsfremde Urlauber in Acht nehmen?
Shanghai zählt eindeutig zu den sichersten Großstädten der Welt und es gibt hier keine Stadtviertel, die man unbedingt meiden sollte. An touristischen Orten tummeln sich jedoch auch hier Taschendiebe und Trickbetrüger, aber wenn man seinen gesunden Menschenverstand einsetzt, kann man sich auch davor leicht schützen.
8. China schränkt den Zugriff auf bestimmte Internetseiten immer noch ein. Wann bemerken Sie die Zensur durch die "Great Firewall"?
Als ich 2007 nach Shanghai kam, war der Internetzugriff wesentlich eingeschränkter als heute. Es war z.B. nicht möglich, Wikipedia zu öffnen oder bestimmte Informationen ausländischer Nachrichtenkanäle aufzurufen. Wenn man sich dies vor Augen hält, und dass es zu vielen westlichen Internetseiten ein chinesisches Gegenstück gibt, so muss man sagen, dass die Situation lockerer geworden ist. Man darf auch nicht vergessen, dass es hier in Shanghai ganz selbstverständlich ist, selbst im kleinsten Cafè einen kostenlosen Wifi-Anschluss zu erhalten. Das kenne ich von Europa nicht so.
9. Wächst mit dem Aufschwung Chinas auch das Selbstbewusstsein der Regierung und Bevölkerung?
Selbstverständlich. Die Regierung fördert dieses Selbstbewusstsein auch unter der Bevölkerung, indem sie immer wieder über die erzielten Erfolge berichtet, wie z.B. die Austragung der Olympischen Spiele in Peking 2008, den Bau des weltweit größten Hochgeschwindigkeitsnetzes für Eisenbahnen oder den Bau des zweithöchsten Gebäudes der Welt in Shanghai. Die junge Generation kennt nur Aufschwung und das spiegelt sich auch in der Lebenseinstellung wider.
10. Gibt es Ihrer Meinung nach einen Zusammenhang zwischen Sprache und Lebensanschauung? Würden Sie Ihr Kind auch Chinesisch lernen lassen?
Sicher gibt es diesen. Die Lebensanschauung eines Volkes kann man sehr gut an den gängigen Redewendungen erkennen. Das deutsche “Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps” unterstreicht, wie wichtig die Trennung von Berufs- und Privatleben im deutschen Kulturraum ist. Genauso verhält es sich auch mit dem Chinesischen. “Der Nagel, der herausragt, wird in das Brett gehämmert” zeigt das kollektivistische Denkmuster Chinas an. Was den Sprachunterricht betrifft, so bin ich selbstverständlich dafür, dass meine zwei Söhne an der Schule Chinesisch lernen, wenn ich mir auch wünschen würde, dieser wäre mehr aufs Sprechen als aufs Schreiben von Schriftzeichen ausgerichtet.
11. Inwiefern unterscheidet sich "typisch" chinesisches Verhalten von “typisch” Südtirolerischem im Alltag?
Hier in Shanghai leben Ein-Kind-Familien und Großeltern fast immer unter einem Dach. Die Großeltern kümmern sich tagsüber um das Enkelkind, während die Eltern einem Beruf nachgehen. In ihrer Freizeit spielen die älteren Generationen Mahjong oder treffen sich im Park zum Tanzen, um Tai-Chi auszuüben oder auch um Drachen steigen zu lassen. Die Wochenenden verbringt man mit Familie und Freunden entweder in einem der großen Einkaufszentren oder in einem der Parks.
12. Was wünschen Sie sich für Ihre (berufliche) Zukunft?
Ich wünsche mir vor allem, dass Firmen die Wichtigkeit interkultureller Trainings für den Erfolg ihrer Auslandsgeschäfte erkennen würden. Die interkulturelle Kompetenz eines Mitarbeiters gehört heutzutage einfach zu einer Kernkompetenz, wenn man global agieren will. Bedenkt man nämlich, dass laut Studien ein gescheiterter 3-jähriger Auslandseinsatz eine Firma bis zu 1 Million US-Dollar kosten kann, so sind die Kosten für ein 1- oder 2-tägiges interkulturelles Training im Vergleich ein Pappenstiel.
Interview: Alexander Walzl