"Leider werden viele Doktoranden immer noch ausgenutzt"
Die Entwicklungsbiologin Judith Habicher promoviert derzeit im Bereich der Entwicklungsbiologie an der Uppsala-Universität in Schweden. Im Südstern-Interview erzählt die gebürtige Brixnerin von ihren Forschungsprojekten, den Herausforderungen des Doktorats und den Eigenheiten Schwedens.
Mahmoud Farag
Im Rahmen Ihres Phd‐Studiums an der Uppsala Universität in Schweden befassen Sie sich unter anderem mit Zebrafischen, die sich auch als Aquarienzierfische großer Beliebtheit erfreuen. Warum eignen sich gerade Zebrafische für die Forschung?
Zebrafische sind relativ kleine Süßwasserfische und sind sehr einfach in Aquarien zu halten, zu Hause aber auch in Labors. Sie werden in der Forschung als Modellorganismus verwendet haben besonders in den letzten 10 Jahren an Bedeutung zugenommen. Genetisch sind Zebrafische dem Menschen ähnlicher als viele glauben. Ungefähr 70% der menschlichen Gene haben ein Gegenstück im Zebrafisch mit ähnlichen oder sogar genau den gleichen Funktionen. Im Gegensatz zu Säugetieren legen Zebrafische Eier und die Embryonen entwickeln sich außerhalb der Mutter in einer transparenten Schale atemberaubend schnell. Aufgrund dieser Tatsache kann die frühe Entwicklung von der ersten Zelle an beobachtet und „live“ untersucht werden. Die Embryonen können nicht nur beobachtet, sondern auch leicht genetisch manipuliert werden. Dadurch öffnen sich viele Möglichkeiten für die Erforschung genetischer Prozesse in einem gesamten Organismus.
Woran forschen Sie gerade und welche Rückschlüsse für den Menschen lassen sich daraus ziehen?
Ich bin Entwicklungsbiologin und war immer schon fasziniert, wie sich aus einer einzigen befruchteten Eizelle ein gesamter Organismus bilden kann. Derzeit forsche ich an der Entwicklung von Knorpel- und Knochengewebe. Ich untersuche wie sich die ersten Zellen im Embryo zu einem Gewebe zusammenschließen, und wie die Zellen miteinander kommunizieren. In diesem Zusammenhang erforsche ich die Funktion von Proteoglykanen. Das sind Proteine, die lange Zuckermoleküle tragen und sich in der extrazellulären Matrix, dem Zwischenraum zwischen den Zellen, befinden.
Meine Forschung an der Entwicklung von Knorpelgewebe fällt in den Bereich der Grundlagenforschung. Gemeinsam mit Evolutionsbiologen versuchen wir zu verstehen, wie sich das Skelett und harte Gewebe zum ersten Mal in der Evolution bilden konnten. Auf den Menschen bezogen ist die Forschung an Knorpelzellen besonders in Bezug auf die Arthrose relevant. Arthrose ist eine häufig auftretende Erkrankung der Gelenke, bei der gesundes Knorpelgewebe aus noch unerklärlichen Gründen abgebaut wird. Um neue Therapieansätze starten zu können, benötigen wir zunächst ein besseres Verständnis der natürlichen Abläufe im Knorpelgewebe.
Immer wieder wird die Debatte um Tierversuche von Tierrechtlern neu angeheizt: Sind Tierversuche Ihrer Meinung nach ethisch vertretbar? Welche Alternativen hält die Forschung derzeit bereit?
Meiner Meinung nach sind Tierversuche notwendig. Es ist allerdings sehr wichtig diese zu kontrollieren, um überflüssige Tierversuche zu vermeiden. Die Diskussion über Tierversuche ist allgegenwärtig und wichtig. Viele der aktuellen Behandlungen im medizinischen Bereich, sei es medikamentös wie auch bei Operationen, sind ohne die vorhergegangenen Tierversuche undenkbar. Innerhalb Europa sind die Tierversuche streng reguliert. Es gibt eine große Anzahl von Gesetzen und ethischen Richtlinien, die genauestens befolgt werden müssen.
Eine Alternative zu Tierversuchen ist die Arbeit mit Zellkulturen. Ich bin allerdings der Meinung, dass diese nicht wirklich die Tierversuche ersetzten können. Es ist heute möglich einen bestimmten Zelltyp zu züchten und mit diesem Experimente zu betreiben. Dies ist sehr wichtig, um viele Grundprozesse zu verstehen. Die Forschung hat uns aber auch gezeigt, dass sich einzelne Zelltypen untereinander anders verhalten als in einem Organismus. Ein Organismus ist ein sehr komplexes, ganzheitliches System mit vielen Interaktionen auf verschiedenen Ebenen.
Mahmoud Farag
Ist scheitern in der Forschung verpönt? Leben wir ein falsches Bild von Erfolg?
Scheitern ist meiner Meinung nach in der gesamten heutigen Gesellschaft verpönt, aber in der Forschung hat dies andere Auswirkungen. Studien, die zeigen, dass ein bestimmter Inhaltsstoff nicht die vielleicht erhoffte Wirkung hat, werden nicht besonders hoch angesehen und daher leider zu oft nicht veröffentlicht. So genannte negative Resultate oder „Null-Ergebnisse“ sind aber genauso wichtig und erweitern unser Wissen über gewisse Prozesse. Ergebnisse dieser Art sind weniger bahnbrechend und sexy und daher schwieriger zu publizieren als Studien mit signifikanten Resultaten. Aus diesem Grund sind oft nur die positiven Resultate wirklich sichtbar. In den letzten Jahren geht der Trend aber in eine neue Richtung. Der Publikationsdruck ist hoch und viele versuchen mehr und mehr auch negative Resultate zu veröffentlichen, es gibt mittlerweile sogar spezifische Fachzeitschriften dafür. Ich finde dies ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Soll man Gene patentieren dürfen?
In den USA wurde im obersten Gerichtshof in Washington D.C., 2013 ein bedeutendes Urteil zu diesem Thema gefällt. Das Pharmaunternehmen Myriad Genetics hatte die beiden „Brustkrebs-Gene“ BRCA1 und BRCA2 patentiert. Mutationen in diesen Genen können auf erhöhtes Risiko für Brust- und Eierstockkrebs hinweisen. Das Unternehmen hat mit dem Patent das Recht erworben, exklusiv Tests auf Mutationen in diesen zwei Genen zu erstellen. Das Patent wurde angefochten und im Obersten Gerichtshof wurde es für illegal erklärt mit der Begründung, dass die menschliche Erbsubstanz „Produkt der Natur“ sei und daher nicht patentiert werden könne.
Ich stimme diesem Urteil vollkommen zu, alles, was natürlich vorkommt sollte nicht patentiert werden dürfen. Allerdings gibt es viele Grenzfälle. Gene, Proteine oder Enzyme, die zum Beispiel in Bakterien vorkommen, können aus ihrer natürlichen Umgebung entnommen werden und dann für andere Methoden, wie zum Beispiel das „Genome editing“, verwendet werden. Dann dürfen diese Gene patentiert werden.
Patente spielen in der Wirtschaft und in der industriellen Forschung eine größere Rolle als in der Grundlagenforschung. Die Gesetze unterscheiden sich von Land zu Land und dies verursacht oft Streit um Patentrechte.
Glauben Sie, dass der wissenschaftliche Geist durch den übermäßigen Publikationsdruck auf Wissenschaftler in Gefahr ist?
Ich glaube nicht, dass der wissenschaftliche Geist in Gefahr ist, aber er wird vom Publikationsdruck mit Sicherheit beeinträchtigt. Leistung muss ständig erbracht werden und in der Wissenschaft geht es darum, seine Arbeit zu publizieren. Dies ist ein sehr komplexer Prozess, der viel Zeit in Anspruch nimmt und sicherlich nicht immer sehr gerecht geschieht. In meinen Augen hat sich aber auch das Gesamtbild des Wissenschaftlers sehr verändert. In der modernen Gesellschaft muss ein Wissenschaftler viel Zeit mit Marketing, Management und administrativen Aufgaben verbringen und kann sich nicht nur auf Forschung und Lehre konzentrieren. Viele motivierte Wissenschaftler verlieren wir, da sie unter dem Druck und den mangelnden Mitteln und Geldern den Durst und Drang nach Wissen aufgeben. Gleichzeitig glaube ich, dass das Streben nach Wissen allgemein in der Gesellschaft so groß ist wie noch nie in der Geschichte. Die Neugier steuert den Menschen und der Zugang zu Information ist unendlich groß.
Was würden Sie einer jungen Südtirolerin raten, die einen PhD im Ausland anstrebt?
Ich finde einen PhD im Ausland zu absolvieren ist eine sehr tolle Erfahrung und Bereicherung für das Leben. Es erweitert den eigenen Horizont, man sieht viele Dinge aus einem anderen Blickwinkel und lernt dabei auch viel über sich selbst. Der vielleicht wichtigste Ratschlag, den ich jemandem auf dem „PhD-Weg„ geben möchte, ist die Wahl des richtigen Betreuers. Ein guter Doktorvater, so wie es im Deutschen so schön genannt wird, ist auf diesem steinigen Weg Gold wert. Wenn die Möglichkeit besteht, würde ich versuchen die Gruppe und den Betreuer im Vorfeld kennenzulernen, um sich ein Bild vom potenziellen Arbeitsplatz machen zu können. Ich finde es wichtig, dass ein Doktorstudium zunehmend als „richtige“ Arbeitsstelle angesehen wird, auch wenn es noch Teil einer Ausbildung ist. Einen guten Vertrag und ein angemessenes Gehalt finde ich angebracht, die Doktoranden leisten meistens auch sehr gute Arbeit. Dies wird von Land zu Land im Moment noch sehr unterschiedlich gehandhabt. Unabhängig davon finde ich, dass man ein gesundes Selbstbewusstsein mitbringen und entwickeln soll. Es gibt leider noch zu viele Stellen, wo Doktoranden gnadenlos ausgenutzt werden. Skandinavien kann ich für ein Doktorstudium sehr empfehlen. Die Universitäten und die Forschung sind ein guter Arbeitsplatz und die PhD-Studenten genießen viele Vorteile und ein richtiges Arbeitsverhältnis.
Mahmoud Farag
Die digitale Vernetzung ermöglicht es Wissenschaftlern, sich über Länder und Kontinente hinweg zu vernetzen: Welche Herausforderungen gilt es dabei zu bewältigen?
Die digitale, weltweite Vernetzung öffnet unendlich viele Türen, es ermöglicht viele Zusammenarbeiten und einen sehr einfachen und extrem schnellen Zugang für Austausch von Informationen und Ergebnissen. Eine der Herausforderungen sehe ich im rein praktischen Bereich, zum Beispiel die Zeitverschiebung. Bei Zusammenarbeiten mit Instituten in Ländern anderer Zeitzonen muss man oft seinen Tagesrhythmus umstellen. Dies erlebe ich zurzeit sehr intensiv, da sich mein Betreuer vorübergehend in Washington D.C. befindet. Andererseits ist es durch moderne Wege der Kommunikation wie Skype, E-Mails und iMessage möglich eine Zusammenarbeit zeitnah zu gestalten. Die digitale Vernetzung erfordert aber auch ein ständiges Aktualisieren seines Bildes nach außen, das Marketing einer Arbeitsgruppe. Zudem finde ich, dass die Distanz zur Arbeit und das Abschalten vom Beruf erschwert wird. Man hat ständig Zugang zum Rest der Welt und es wird auch verlangt, immer und überall erreichbar zu sein.
Schweden wird von vielen mit einer äußerst egalitären Gesellschaft verbunden: Das Land verfolgt aber auch eine besonders generöse Einwanderungspolitik. Wie nehmen Sie die Einwanderungsdebatte in Südtirol war?
Ich muss zugeben, dass ich die Einwanderungspolitik Südtirols und die Debatte darüber nicht laufend verfolge. Der allgemeine Eindruck, den ich dabei erhalte, ist eher mit negativen Gefühlen verbunden. Ich finde, dass viele Südtiroler eine abweisende Haltung gegenüber Einwanderern haben. Meiner Meinung nach sind viele Einwanderer aus Nicht-EU Ländern arbeitslos und werden nicht besonders gut in die Gesellschaft integriert. Sowohl die Sprache als auch die Kultur stellen dabei eine große Barriere dar. Ich bin selbst Einwanderin in einem fremden Land und dies hat meine Sicht der Dinge verändert. In Schweden wurde ich gut aufgenommen, war aber auch bemüht mich zu integrieren, indem ich die Sprache erlernt und mich mit der schwedischen Kultur auseinandergesetzt habe. Ich habe aber auch erfahren, dass es manchmal schwierig ist, die Kultur des Gastlandes mit meiner eigenen Kultur und Herkunft zu vereinbaren. Ich finde es wichtig, dass wir Einwanderer aktiv versuchen uns zu integrieren und andere Sichtweisen zu tolerieren.
Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Unterschiede zwischen Südtiroler und Schwedischer Lebensweise?
Ich finde, dass es gewisse Ähnlichkeiten zwischen der Schwedischen und Südtiroler Lebensweise gibt. Familie, Freizeit, Sport und die Natur spielen auch in der schwedischen Gesellschaft eine wichtige Rolle. Schweden ist besonders in technischer Weise ein sehr fortgeschrittenes und innovatives Land. Sowohl „Skype“ als auch „Spotify“ wurden von Schweden gegründet, um nur zwei mittlerweile weltbekannte Beispiele zu nennen. Computer, Smartphones, Tablets und das Internet sind aus der Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Sehr vieles kann man in Schweden online von zu Hause aus erledigen, was einem oft Zeit und Nerven spart. Auch Bargeld kursiert sehr wenig in Schweden, alles, vom Busticket bis zum Kaffee, wird immer und überall mit Karte bezahlt. Die Küche und allgemein den gesellschaftlichen Aspekt von Speis und Trank empfinde ich in Schweden anders als zu Hause. Das Essen wird vielleicht nicht so zelebriert wie in Südtirol und Italien. Die traditionelle Hausmannskost ähnelt der von Südtirol, obwohl zusätzlich zu Fleisch und Kartoffeln auch sehr viel Fisch konsumiert wird. Die heutige Küche ist aber mehr von der ganzen Welt beeinflusst. Die Kultur von Wein und Bier ist nicht so ausgeprägt wie bei uns. Dies hat natürlich auch mit dem Klima und Anbau zu tun. Schweden war Teil vom sogenannten „Vodkagürtel“ und das Alkoholproblem im Lande war sehr groß. Um den Alkoholkonsum zu kontrollieren, wurde bereits 1955 der Systembolaget gegründet. Dies ist ein staatliches Monopol mit sehr hohen Steuern und es ist heute das einzige Geschäft, welches alkoholische Getränke (über 3,5%) verkaufen darf. Der Systembolaget dient als Instrument der staatlichen Alkoholpolitik hat aber auch den Vorteil, dass die Auswahl unendlich groß ist. Man bekommt Biere und Weine aus allen Ecken der Welt. Als Südtirolerin ist dieses Konzept aber doch sehr gewöhnungsbedürftige, muss ich eingestehen.
Ein weiterer Aspekt, den die Gesellschaft prägt, sind die Jahreszeiten- besonders die extrem kurzen Tage des Winters und die langen des Sommers. Die Sonne prägt das Leben der Schweden. In den ersten sonnigen Tagen des Frühlings füllen sich die Straßen, die Leute halten in der Sonne inne und das Leben in der Stadt erwacht vom Winterschlaf. Midsommar,der längste Tag des Jahres, wird immer am Freitag vor dem 21. Juni gefeiert und ist ein besonders bedeutender Feiertag. Auch nimmt sich der typische Schwede mindestens drei bis vier Wochen im Sommer frei, um jede Sonnenminute zu genießen und für den Rest des Jahres zu speichern. Der gesamte Juli ist wie Ferragosto in Italien: Alles steht still.
Unter welchen Bedingungen würden Sie selbst nach Südtirol zurückkehren?
Ich strebe eine Rückkehr nach Südtirol an, die Bedingung ist allerdings die Arbeit. Ich hoffe sehr, dass ich eine interessante und herausfordernde Arbeitsstelle in Südtirol finde. Ich bin sehr an der Tätigkeit der EURAC interessiert und hoffe dort in der Forschung weiterarbeiten zu können.
Was vermissen Sie aus Ihrer Heimat Brixen?
Die Liste der Menschen und Dinge die ich vermisse ist sehr lang. Ganz oben stehen meine Familie, meine Freunde und die Berge. Ich vermisse das Skifahren, das Wandern und das Bergsteigen, die ganzen Freizeitaktivitäten die man vor der Haustür hat und ständig ausüben kann. Ich liebe die atemberaubende Natur, den Blick auf die Geisler im Sonnenuntergang. Mir fehlt aber auch sehr der Macchiato und der Hugo beim Platzl, ein gutes Glas Kerner des Strasserhofs, der Vinus, der Glühwein am Weihnachtsmarkt und die langen Donnerstage im Sommer in Brixen. Allgemein fehlt mir das Leben, die Stimmung und die Atmosphäre der Kleinstadt in den Bergen.
Interview: Alexander Walzl