„Etwas weniger Nebeneinander und dafür mehr Miteinander“
Marion Dalvai lehrt und forscht an der schottischen Universität St Andrews, die vor einigen Jahren durch die Hochzeit von Herzogin Kate und Prinz William auch der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde. Im Südstern Interview spricht sie über besondere Uni-Traditionen, schottische Eigenheiten und erklärt, warum George Orwells 1984 noch lange als Standardwerk etabliert bleiben wird.
Fotografin: Chiara Tomasi
Die Universität St. Andrews wurde vor einigen Jahren durch die Hochzeit von Herzogin Kate und Prinz William auch der breiten Öffentlichkeit bekannt. Was macht das Studium und die Lehre in St. Andrews besonders?
Der enge Kontakt zwischen Studenten und Dozenten. Ich unterrichte in der Fakultät für Fremdsprachen, die besonderen Wert auf kleine Seminargruppen legt, sodass man als Dozent nach zwei Wochen bereits alle Studenten in den Seminargruppen beim Namen kennt.
Die Universität besteht bereits seit einigen Jahrhunderten: Welcher Aspekt der Geschichte fasziniert Sie besonders?
Vom Flughafen in Edinburgh erreicht man heutzutage St Andrews in etwa einer Stunde. Als die Universität 1414 gegründet wurde, war die Anreise natürlich viel beschwerlicher. Im Mittelalter war St Andrews der wichtigste katholische Wallfahrtsort in Schottland, weshalb hier auch eine Universität entstand. Wie die Universität nach der Reformation überlebt und sich über die Jahrhunderte weiterentwickelt hat, das ist eine spannende Geschichte!
St. Andrews ist auch bekannt für einige merkwürdige Traditionen: Wie werden diese alljährlich begangen?
Jeder Bejant und jede Bejantine- so werden Erstjahresstudenten hier genannt- hat in St Andrews einen „Academic Parent“, einen Studenten aus dem dritten oder vierten Jahr, der als Mentor fungiert. Aus dieser Tradition entstand der sogenannte „Rosinenmontag“ (Raisin Monday). Früher bekamen der Mentor gewisse Zeichen der Anerkennung - zuerst Rosinen, später Wein. Sie mussten als Gegenzeichen einen Text auf Lateinisch verfassen, der dann öffentlich vorgelesen (und auf Fehler überprüft) wurde. Heutzutage liefern sich die Studenten als Höhepunkt des Tages eine Schaumschlacht.
Am 1. Mai hingegen treffen sich viele unserer Studenten im Morgengrauen am Strand, wo sie dann gemeinsam ins eisige Wasser springen -- begleitet vom Madrigalchor der Universität.
Ihr Fachbereich liegt in den vergleichenden Literaturwissenschaften: Womit befassen Sie sich gerade?
Ende Juli 2015 hat der internationale akademische Verlag Peter Lang meine erste Monografie veröffentlicht. “Politics of Cross-Cultural Reading: Tagore, Ben Jelloun and Fo” ist die überarbeitete Buchfassung meiner Doktorarbeit, die ich am Trinity College Dublin geschrieben habe. Ich beschäftige mich mit Werken, die in englischer Übersetzung erscheinen und als Weltliteratur vermarktet werden. Oft denken wir gar nicht darüber nach, wer die Personen und Institutionen sind, die dafür verantwortlich sind, wie ein Text übersetzt und der Leserschaft präsentiert wird. Das ist vor allem im englischsprachigen Raum interessant, da der Anteil an übersetzten Büchern auf dem Buchmarkt nur 3 oder 4 Prozent beträgt: Im deutschsprachigen Raum sind es hingegen etwa 35 bis 45 Prozent.
Momentan arbeite ich an einem Artikel, der sich mit der Übersetzung von Gegenwartsliteratur ins Englische beschäftigt: Wie viele neue Bücher wurden in den letzten Jahren ins Englische übersetzt? Welche Sprachen und Genres werden bevorzugt? Welche Rolle spielen dabei Institutionen wie die Frankfurter Buchmesse, Kulturinstitute verschiedener Nationen, Übersetzungswettbewerbe?
Sie setzen sich unter anderem mit George Orwell auseinander, der vielen durch “1984” bekannt sein dürfte. Hat die jüngste NSA-Affäre auch zu einem stärkeren literarischen Interesse an Orwells Werken geführt?
Ich glaube, dass Orwell in den letzten 65 Jahren eigentlich nie aus der Mode gekommen ist. Irgendwo auf diesem Planeten gab und gibt es immer Situationen, die den Beschreibungen in 1984 ähnlich sehen: Arbeiter, die vom System ausgenutzt werden; die Verletzung der Privatsphäre von Menschen; Medien, die gewisse Ereignisse totschweigen (müssen). Die NSA-Affäre reiht sich da in eine lange Liste von anderen historischen Ereignissen ein. Ich bin aber davon überzeugt, dass Orwells Buch noch lange ein Standardwerk bleiben wird.
Sie haben in Italien und Irland studiert: Wie unterscheiden sich und was schätzen Sie an den doch sehr unterschiedlichen Studiensystemen?
Ich habe von 1994 bis 1999 an der Uni in Trient studiert und habe dann zuerst in Südtirol und dann an einer internationalen Schule am Genfer See unterrichtet, bevor ich 2007 nach Irland gezogen bin, wo ich einen Master in Komparatistik und dann ein Doktorat im gleichen Fach gemacht habe. In den Jahren dazwischen hat sich an den europäischen Unis viel geändert: die Bachelor-Studiengänge wurden eingeführt, die Prüfungsverfahren komplett umstrukturiert. Das macht das Vergleichen der Systeme etwas schwierig.
In den 90er Jahren machten wir noch die mittelalterlichen Riesenprüfungen, wo man Tausende Seiten las und dann vielleicht 20 Minuten mündlich geprüft wurde. Studenten meiner Generation haben vielleicht ein breiteres Allgemeinwissen als Studenten heutzutage. Es war so, dass man die Ideen der wichtigsten Denker in-und auswendig kennen musste. Was man selbst zu einem Buch zu sagen hatte, war oft zweitrangig. Das ist natürlich anders, wenn man ein weiterführendes Studium beginnt, vor allem in einem anderen Kulturkreis und nach einer so langen Pause. Am Anfang habe ich in meinen Arbeiten - nach guter italienischer Tradition- zu oft zitiert und zu wenig selbst interpretiert-, wobei das Letztere natürlich mehr Spaß macht!
Wie überstehen Sie den grauen und kalten Winter in Schottland?
Vier Jahre in Dublin hatten mich relativ gut auf den schottischen Winter vorbereitet, wobei man schon merkt, dass man hier doch noch ein Stückchen näher am Nordpol sitzt!
Mit meinem Lebensgefährten bin ich im August 2012 hierhergezogen. Im ersten Winter waren die kurzen Tage schon ein Schock für mich: Allerdings bringen die langen Sommertage einen wunderbaren Ausgleich. Ansonsten: warm anziehen, Heizung an und viel Tee trinken!
Wie hat sich die Stimmung nach der Unabhängigkeitsabstimmung in Schottland entwickelt?
Viele Befürworter denken „Jetzt erst recht!“ und wollen ein zweites Referendum in nicht allzu ferner Zukunft. Die SNP (Scottish National Party) hat im Mai 2015 56 von 59 schottischen Sitzen im Westminster-Palast gewonnen. So etwas gab es noch nie!
Allerdings muss man auch sagen, dass die Jahreseinkünfte aus dem Nordsee-Öl, die den unabhängigen schottischen Staat hätten größtenteils finanzieren sollen, schon zum zweiten Mal hintereinander massiv eingebrochen sind. Das wird doch einigen Wählern etwas zu bedenken geben, sollte es zu einem weiteren Unabhängigkeitsreferendum kommen.
Mit welchen schottischen Eigenheiten haben Sie anfangs nicht gerechnet? Sprechen Sie auch schottisches Englisch?
Eigentlich hatte ich keine festen Vorstellungen davon, wie die Schotten sein würden. In vielen Hinsichten ähneln sie ihren keltischen Cousins, den Iren. Was mir aber anfangs sofort aufgefallen ist: In Irland haben die meisten Pubs große Fenster, die Ein-und Ausblick erlauben. In Schottland gibt es viele Pubs, die kleine oder milchige Fenster haben, was wohl damit zu tun hatte, dass man früher nicht wollte, dass die Menschen draußen durch die Unsitten der im Pub Sitzenden negativ beeinflusst würden.
So langsam schleichen sich verschiedene Begriffe aus dem schottischen Englisch in meinen Sprachgebrauch ein: Ich ertappe mich oft dabei „wee“ statt „small“ zu sagen und „I stay in Fife“ statt „ I live in Fife“. Am schottischen Akzent arbeite ich noch.
Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus?
Wir haben letztes Jahr ein Haus gekauft und fühlen uns hier wohl. Allerdings habe ich momentan wie so viele andere Neueinsteiger im akademischen Betrieb keinen unbefristeten Vertrag, was natürlich ein Ziel für die Zukunft ist. Eigentlich wünsche ich mir, dass ich ein Gleichgewicht finde zwischen Beruf und Familie.
Warum sind Sie bei Südstern?
Um mit anderen Auslands-Südtirolern in Kontakt treten zu können. In Berlin war das leichter: Da gab es mehrere Südsterne. Hier in diesem Teil Schottlands gestaltet sich das etwas schwieriger. Mit Kleinkind zu einem Treffen nach London fahren, das habe ich bisher noch nicht geschafft!
Was wünschen Sie sich für Südtirol?
Etwas weniger Nebeneinander und dafür mehr Miteinander.
Interview: Alexander Walzl