„Es ist sehr wichtig, vor komplexen Aufgaben nicht zurückzuschrecken“
Der gebürtige Margreider Simon Pedron ist nach seinem Studium des Chemieingenieurwesens an der TUM als Projektingenieur bei der Wacker Chemie AG in Burghausen eingestiegen. Im Südstern Interview spricht er über 3-D-Drucker, die Herausforderungen eines MINT-Studiums, und warum seiner Meinung nach kleine bis mittelgroße innovative Hightech-Unternehmen gut zu Südtirol passen.
Welche Produkte stellt die Wacker AG her und in welchen Bereichen finden sie Anwendung?
Die Wacker Chemie AG hat ein breites Produktportfolio, das siliciumbasierte und organische Polymere, Cyclodextrine und diverse Feinchemikalien umfasst. Anwendung finden diese Produkte hauptsächlich in der Bau-, Kosmetik-, Pharma-, Farb- und Lack- sowie der Textilindustrie. Beispielsweise wird SILRES Silconharz zur Hydrophobierung von Stahlbeton eingesetzt und schützt diesen dadurch vor Nässe und chemischem Angriff durch Salze. Des Weiteren stellt Wacker auch polykristallines Silicium für die Halbleiter- und Fotovoltaikindustrie her. Das ist auch der Geschäftsbereich, in dem ich als Projektingenieur tätig bin. Nicht zuletzt stellt die Siltronic AG als Wacker-Tochtergesellschaft Siliciumwafer her, welche schlussendlich zu Mikrochips in Elektronikbauteilen verarbeitet werden.
3-D-Drucker sind derzeit in aller Munde: Dennoch wissen die Wenigsten über die verschiedenen Drucktechniken und deren Anwendungszwecke Bescheid. Der Wacker AG gelang kürzlich ein Durchbruch im silikonbasierten 3-D-Druck: Wie funktioniert das Verfahren und was bedeutet dies konkret?
Wacker hat in Zusammenarbeit mit einem externen Ingenieurbüro das erste 3-D-Druckverfahren entwickelt, mit dem es möglich ist, ein Elastomer – in diesem Fall ein Silikon – zu drucken. Dabei werden von einem Roboter Silikontröpfchen Schicht für Schicht nebeneinander abgelegt. Die Schichten werden jeweils einzeln mit ultraviolettem Licht vulkanisiert, also vernetzt. So entsteht schlussendlich der Körper, den man per CAD-Datei vorgegeben hat. Das Material ist biokompatibel, temperaturbeständig und transparent. Wie bei vielen anderen 3-D-druckbaren Materialien, ist dieses Verfahren auch für Silikon erst einmal für die schnelle und günstige Fertigung von Prototypen und Teilen mit geringer Stückzahl interessant. In der Automobilbranche ist so z. B. die schnelle Nachfertigung von Ersatzteilen wie Schläuchen oder Steckern denkbar. Ein anderes Beispiel sind individuell angepasste Einlegesohlen für Laufschuhe. Weitere Anwendungsfelder sind in den Industriebereichen Medizintechnik, Haushalt und Optik zu finden.
Haben Sie sich bereits einen 3-D-Drucker zugelegt? Wird der 3-D-Druck Ihrer Meinung nach in absehbarer Zeit die dritte industrielle Revolution einleiten?
3-D-Druck mit verflüssigbaren Polymeren ist ja mit vielen Kunststoffen bereits möglich. In meinem Arbeitsalltag habe ich mit dieser Thematik kaum Berührungspunkte. Weder besitze ich privat einen 3-D-Drucker, noch nutze ich einen in der Arbeit. Ich merke aber, dass mittlerweile auch Lieferanten aus der Metall- und Keramikindustrie mit diesem Verfahren arbeiten, bislang jedoch noch in der Prototyp-Phase. Mit 3-D-Druck wird es meiner Meinung nach langfristig möglich sein, fast alles herzustellen. Ob dies auch ökonomisch sinnvoll ist, steht auf einem anderen Blatt. Ich denke, dass der 3-D-Druck herkömmliche formgebende Verfahren bei vielen Kunststoffen, einigen Metallen und Keramiken ablösen kann - aber hauptsächlich bei filigranen oder komplexen Geometrien mit begrenzten Abmessungen und geringen Stückzahlen. Somit sehe ich 3-D-Druck weniger als dritte industrielle Revolution, sondern vielmehr als ein neues Formgebungsverfahren.
Wie sieht Ihr typischer Arbeitstag aus?
Ich stehe um ca. 06:45 Uhr auf und bin eine Stunde später in der Arbeit. Ich wohne direkt in Burghausen und kann deshalb meinen Arbeitsplatz in bequemen 12 Minuten mit dem Fahrrad erreichen. Das Chemiewerk, in dem ich arbeite, schließt direkt an die Neustadt von Burghausen an und ist fast wie eine Stadt in der Stadt. Es arbeiten 10.000 Leute darin und die Distanzen von einem Ort im Werk zum anderen sind manchmal nicht unerheblich. Das Fahrrad ist darin das Fortbewegungsmittel der Wahl und wird vom Arbeitgeber gestellt. Es gibt neben der Kantine und der Bibliothek eine eigene Feuerwehr, einen eigenen Sanitätsdienst und sogar eine Fahrradwerkstatt.
Während eines Arbeitstages bin ich in ein bis zwei Besprechungen zu laufenden Projekten oder zur anderweitigen Abstimmung mit Kollegen und telefoniere im Schnitt eine Stunde täglich mit Lieferanten oder Mitarbeitern aus der Produktion, Entwicklung, Einkauf, Werkstätten oder Laboren. Ansonsten führe ich Berechnungen durch, plane Anlagenversuche oder sonstige Optimierungsmaßnahmen. Zu Mittag unterbreche ich für eine Stunde die Arbeit und gehe mit einem Großteil des Teams in die Kantine. In vielen Abteilungen erreicht man nach 16 Uhr niemanden mehr, ich selbst beende die Arbeit zwischen 17:00 Uhr und 17:30 Uhr. Danach versuche ich, möglichst regelmäßig Sport zu treiben, v. a. Sportklettern in der Burghauser Kletterhalle, oder Zeit mit meiner Freundin zu verbringen.
Vor welchen Innovationen in der chemischen Forschung haben Sie den größten Respekt?
Da kann ich das Haber-Bosch-Verfahren nennen, bei dem aus Stickstoff und Wasserstoff Ammoniak hergestellt wird. Das Verfahren hat seit Anfang des 20. Jahrhunderts sehr hohe Bedeutung, da es extra entworfen wurde, um stickstoffhaltige Düngemittel herstellen zu können. Es war die Antwort auf eine drohende Knappheit an natürlichem Düngemittel und in der Folge auf drohende Hungersnöte. Ohne das Haber-Bosch-Verfahren könnte auch heute keine intensive Landwirtschaft betrieben werden. Der Prozess, der Reaktoraufbau und der eingesetzte Katalysator wurden damals akribisch erforscht, optimiert und seit den 1920er Jahren nicht maßgeblich verändert: Es gab insgesamt drei Nobelpreise für Chemie, die mit diesem Verfahren zusammenhängen. Der Haber-Bosch-Prozess ist ein leuchtendes Beispiel dafür, wie Naturwissenschaft und Technik aktuelle Probleme der Menschheit lösen können.
Die Möglichkeiten, die ein MINT-Studium eröffnen kann, sind sehr breit gefächert: Was hat Sie zur Arbeit in der “Industrie” bewogen?
Ich war schon zu Schulzeiten sehr vom Fach Chemie fasziniert. Mit dieser Wissenschaft ist ja die Produktion fast aller Stoffe möglich, die wir in unserem Alltag und darüber hinaus ständig benötigen. Eben genau die Anwendung von Wissen zum Herstellen eines konkreten Produkts hat immer einen starken Reiz auf mich ausgeübt. Nach der Matura habe ich mich für ein Studium des Chemieingenieurwesens an der TU München und gegen ein Studium der Chemie entschieden. Dieses hätte fast zwingend eine anschließende Promotion mit sich gebracht, während ich nach 13 Jahren Schule und anstehenden 5 Jahren Studium endlich in Aussicht haben wollte, die Hemdsärmel hochkrempeln zu können. Des Weiteren denkt ein Ingenieur in anderen Mustern als ein Chemiker bzw. Naturwissenschaftler, was auch gut so ist, weil sie sich so gegenseitig ergänzen. Der Naturwissenschaftler forscht an grundlegenden und innovativen Themen. Beispielsweise könnte ein Chemiker einen neuen Biokraftstoff entdecken und ein Syntheseverfahren dafür entwickeln. Der Ingenieur, in dem Fall der Chemieingenieur, hat dagegen die Aufgabe, das Wissen des Chemikers in großem Maßstab anzuwenden und somit eine große Anlage mit Reaktor samt vor- und nachgelagerten Reinigungsstufen zu planen, bauen zu lassen, in Betrieb zu nehmen und ständig zu verbessern. Neben dem Wissen im Bereich der Naturwissenschaften spielen dabei auch immer ökonomische und ökologische Aspekte eine Rolle, beispielsweise die Einsparung von Energie oder die Nutzung von anfallenden Nebenprodukten.
Es gibt noch andere positive Nebeneffekte, die eine Tätigkeit in der Industrie zumindest in Deutschland mit sich bringt. Das sind die sehr gute Entlohnung und die Möglichkeit, gleich von Beginn an in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis einzusteigen. Bei Wacker habe ich schon vor Abschluss zwei Praktika und meine Masterarbeit gemacht. Mir hat von Anfang an das generell positive und konstruktive Betriebsklima gefallen. Neben interessanten Arbeitsinhalten und Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung ist auch die Work-Life-Balance gegeben. Sicher gibt es da auch in der Chemiebranche Firmen, bei denen das anders ist. Meine positiven Erfahrungen bei Wacker haben mich aber zusätzlich motiviert, nach dem Master bei Wacker und somit in der Industrie anzufangen.
Abgesehen vom entsprechenden Studienabschluss, welche Fähigkeiten und Charaktermerkmale sind Ihrer Meinung nach erforderlich, um in dieser Branche Freude und Genugtuung zu finden?
Ingenieure sind vorurteilsgemäß streng rational denkende, bodenständige, Karohemd tragende Zeitgenossen, die alles berechnen können, was man sich nur vorstellen kann. Naturwissenschaftlern spricht man dagegen wirre Frisuren, eine leichte Kauzigkeit und Exzentrizität zu, die sie vermutlich brauchen, um nach 100 gescheiterten auch einen bahnbrechend erfolgreichen Versuch durchzuführen, ohne verrückter zu werden, als sie eh schon sind.
Die Realität ist, wie immer, nicht so einfach. In meiner Arbeit geht es viel um das Schlagwort Projektmanagement, was sicher auch für den Großteil aller Ingenieure, aber auch für Naturwissenschaftler, in irgendeiner Weise eine Rolle spielt. So muss man offen sein und mit Leuten aus allen möglichen Disziplinen kooperieren, kommunizieren und verhandeln. Die Rolle der fachlichen Kompetenz hängt sehr stark vom tatsächlichen Berufsbild ab. Unabhängig davon ist es sehr wichtig, vor komplexen Aufgaben nicht zurückzuschrecken, sondern diese als positive Herausforderung und als Möglichkeit anzunehmen, sich selbst zu entfalten. Den Satz "Ich kann das nicht!" sollte man nicht ohne vorher gründlich nachgedacht zu haben in den Mund nehmen.
Wie für alle anderen Berufe gilt auch für MINT-Absolventen, dass ihnen ihr Fachgebiet Spaß machen soll, aber auch, dass die Phase des Wissenserwerbs nicht mit dem Studium aufhört.
Welchen Ratschlag würden Sie einer Südtiroler Oberschülerin mit auf den Weg geben, die in der Chemie Ihre Zukunft sieht? Gibt es etwas, das Sie vorher gerne gewusst hätten?
MINT-Fächer sind im Studium anspruchsvoll und neben hoher Motivation sind auch Fleiß und Durchhaltevermögen gefragt. Da sich die Frage auf eine Oberschülerin bezieht: Der Studiengang Chemie war, als ich noch studiert habe, ungefähr 50:50 mit männlichen und weiblichen Studenten besetzt. Bei Ingenieuren ist die Frauenquote niedriger, aber die Frauenquoten aus der Uni ziehen sich meiner Erfahrung nach auch in die Unternehmen fort, wo Frauen bei gleicher Qualifikation auch gleich viel leisten wie männliche Kollegen. Wenn eine Oberschülerin sich für ein MINT-Fach interessiert, soll sie sich also nicht von Stimmen davon abhalten lassen, die behaupten, das wäre nichts für eine Frau.
Nach dem Studium wollen die meisten MINT-Absolventen entweder in die Forschung - d. h. an Universitäten oder sonstige Forschungseinrichtungen - oder in größere Unternehmen, die einem eine Tätigkeit anbieten können, zu dem das eigene Studium haargenau passt und die einen folgerichtig auch stark interessiert. In Südtirol gibt es im Bereich Chemie wenige kleine bis mittelgroße Betriebe und wenige Labore, die Forschung betrieben. Wenn man ehrgeizig ist, sollte man sich daher darauf einstellen. Es kommt deshalb häufig vor, dass sich Südtiroler MINT-Absolvent zumindest in den ersten paar Berufsjahren außerhalb von Südtirol die Sporen verdienen: Das war mir auch vor dem Studium bewusst. Die kleineren Firmen in Südtirol können einem nach der Rückkehr in die Heimat aber möglicherweise verantwortungsvollere Positionen ermöglichen.
Was möchten Sie in den nächsten 5 Jahren erreichen?
Ich möchte mich in meinem Beruf in der chemischen Industrie weiter entwickeln und auch selbst Projekte leiten. Sofern nichts Unvorhergesehenes passiert, denke ich, dass sich diese Entwicklung in Bayern abspielen wird.
Südtirol leidet immer stärker unter einem “Brain Drain”: Können Sie sich vorstellen nach Südtirol zurückzukehren? Welche Rahmenbedingungen sollten sich in naher Zukunft ändern?
Ich habe nicht geplant, in näherer Zukunft nach Südtirol zurückzukehren. Ich spiele manchmal mit dem Gedanken, es irgendwann doch zu tun. In diesem Fall müsste eine interessante Beschäftigung locken und, vielleicht das Wichtigste, meine Partnerin müsste mitspielen.
Der Brain Drain ist weniger ein Südtiroler als vielmehr ein gesamtitalienisches Phänomen. Ein Problem bisher waren die befristeten Arbeitsverhältnisse in Italien und das geringere Lohnniveau im Vergleich zu Mitteleuropa und dem angelsächsischen Raum. Hinzu kommt noch die komplexe Gesetzeslage, die die Unternehmensgründung erschwert, und die Tatsache, dass in Italien viel zu wenig Geld für Forschung ausgegeben wird. Bei den Südtirolern kommt höchstens dazu, dass die Barriere wegen der deutschen Sprachkenntnisse noch niedriger ist, in Mitteleuropa Arbeit zu suchen. Eine Verbesserung erwarte ich mir durch die Arbeitsmarktreform von Premier Renzi, die Anreize schafft, für Arbeitnehmer attraktivere Einstiegsbedingungen in ein Unternehmen zu realisieren, ohne dass der Arbeitgeber Angst haben muss, einen unkündbaren Mitarbeiter eingestellt zu haben. Institute wie das TIS, die Unternehmensgründer unterstützen, sind ebenfalls ein Schritt in die richtige Richtung.
Wo liegt Ihrer Meinung nach Südtirols größtes ungenutztes Potenzial?
Die Südtiroler sind weltweit sehr gut vernetzt, die jüngeren sprechen drei Sprachen fließend und das Land liegt einigermaßen zentral in Europa. Das allein macht Südtirol schon zu einem attraktiven Wirtschaftsstandort, nicht zuletzt einem attraktiven Industriestandort. Die Universität Bozen sollte mehr MINT-Studiengänge einführen und dort vor allem auch die Forschung vorantreiben. Besonders in den Gebieten "Regenerative Energien" und "Elektromobilität" könnte Südtirol durch Grundlagenforschung und innovative Unternehmensgründungen europaweit eine Vorreiterrolle einnehmen. Dies passt beispielsweise auch zu Konzepten des nachhaltigen Tourismus. Südtirol ist europaweit bekannt für seine außergewöhnliche landschaftliche Schönheit, „Terggelen“ und Speckknödel. Südtirol muss sich also in eine Richtung entwickeln, die dazu passt. Generell denke ich, dass kleine bis mittelgroße innovative Hightech-Unternehmen besser zu Südtirol passen als ein Chemiewerk, das das ganze Unterland ausfüllt.
Was wünschen Sie sich für Südtirol?
Ich wünsche mir, dass sich Südtirol eindeutig zum sanften Tourismus bekennt, um die Natur vor weiterer Zerstörung zu bewahren. Ich wünsche mir außerdem, dass die Kategorien deutsch oder italienisch irgendwann nur noch eine sekundäre Rolle im alltäglichen Zusammenleben spielen, weil sich beide Gruppen in gleichem Maße mit den Eigenheiten dieses Landes identifizieren können.
Interview: Alexander Walzl