"Nicht nur Cheerleader sein"

Dienstag, 07.02.2017


Wenn Annette Werth morgens in ihr Büro geht, dann weiß sie, dass sie mit ihrer Arbeit einen Beitrag für die Zukunft der Gesellschaft leisten kann. Portrait einer jungen Frau und Preisträgerin 2016 des FUTURA-Förderpreises für junge SüdtirolerInnen im Ausland.


Ihr Büro sieht aus wie viele andere. Es gibt nur eben mehr, viel mehr Computer und Bildschirme in dem Raum - so groß, wie eine Dreizimmerwohnung - den sie sich mit ihren Kollegen teilt. Technik, auf die Annette Werth in ihrem Beruf kaum verzichten kann. Die junge Boznerin arbeitet als Forscherin bei Sony Computer Science Laboratories in Tokio, Japan.
Das Unternehmen ist im Energiesektor tätig; Werth ist Teil eines neunköpfigen Teams, das erforscht, wie die Weltbevölkerung in Zukunft ihren Strom aus alternativen Energiequellen selbst herstellen und untereinander austauschen kann. "Es ist ein komplexes Thema, aber man kann es sich so vorstellen, als würde man sich bei den Nachbarn mal eben Milch ausleihen, wenn man zu wenig im Haus hat oder ihnen wiederum mit Eiern aushilft, wenn man diese selbst nicht verbraucht", so Werth.

Das Wissen für Sinnvolles nutzen.

Wie es dazu kam, dass die heute 30jährige vor fünf Jahren nach Japan aufbrach, um in einer von Männern besetzten Branche zu arbeiten, kann sich Annette Werth auch nicht wirklich erklären: "Es ist nicht so, dass ich eines Tages aufgewacht wäre und mich für diesen Weg entschieden hätte".
Dass sie keinen alltäglichen Job machen wird, hat sich aber schon mit der Wahl der Studienfächer abgezeichnet. Werth hat Elektromechanik und Künstliche Intelligenz studiert. "Im Laufe eines Entwicklungsprojektes an der Universität Ouagadougou in Burkina Faso habe ich erlebt, was es für einen ausmacht, wenn man jederzeit sein Handy aufladen kann oder immer Internetzugriff hat. Von da an war mir klar, dass ich mein Wissen dort einsetzen will, wo es Nutzen bringt", so Werth.
Als Branchen fand sie in diesem Zusammenhang Energiewirtschaft oder Telekommunikation interessant und arbeitete zunächst als Softwareingenieurin. So lange, bis sie auf einem Symposium ihren derzeitigen Arbeitgeber Hiroki Kitano (CEO von Sony CSL) kennen lernte. Dieser stelle ein Projekt vor, das in Ghana umgesetzt wurde: In einer so genannten "Off Grid"-Zone, also einer Zone, die nicht am Energienetzwerk angeschlossen ist. Dank eines selbst entwickelten Systems von Solarzellen und Batterien, konnten sie dort live Fußballspiele übertragen und Handys aufladen. Fasziniert davon und dem Ruf des Forschers folgend, kam Annette Werth im Jahr 2012 also nach Tokio.

Arbeiten in einem Land, in dem Frauen nicht arbeiten.
Auch wenn Annette damals bereits Jahren im Ausland gelebt hatte, war Tokio anfangs wie eine andere Welt für sie. "Tokio ist eine riesengroße Stadt, mit nichts in der Welt vergleichbar. Tokio ist immer in Bewegung, alles und jeder scheint ziemlich beschäftigt". Doch Annette Werth hat sich bald an das Pulsieren der Stadt gewöhnt und ist heute begeistert, dass sie immer wieder Menschen kennen lernt, die weitreichende Interessen pflegen - und sich so auch ihr Horizont ständig erweitert. "Man begegnet zwar vielen Menschen aus vielen Ländern, aber im Grunde leben in Tokio nur sehr wenige Ausländer; nur etwa 1,5% der Einwohner kommt von außen. Und viele Ausländer sind verwundet, dass nur ganz wenige in Tokio englisch sprechen. Tokio tickt eben anders als europäische Städte".

Anders ist Tokio auch, was die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern betrifft: Annette ist die einzige Frau in ihrem Team im Labor, und auch an der Uni. Ihren Platz im Herren-Team zu finden, war nicht leicht - Annette hat sich aber mit Cleverness Respekt verschafft und wurde schließlich auch voll akzeptiert: "Ich habe anfangs einfach richtig technisch dahergeredet, damit mich die Männer - die auch noch alle mindestens doppelt so alt waren wie ich - ernst nahmen; ich wollte nicht nur "Cheerleader" sein.
In ihrem Team ist Annette in der Zwischenzeit angekommen, genießt den vollen Respekt ihrer Kollegen. Bei offiziellen Anlässen oder Konferenzen ist sie dennoch oft Exotin: "Manchmal, wenn ich die Räumlichkeiten betrete, fragen mich die Herren in Anzug und Krawatte, ob ich den Raum verfehlt hätte", schmunzelt Annette. Diese Perplexität spiegelt die Gesellschaft wider; die Einstellung zu Familie ist anders als in Europa. Mit der Heirat geben auch heute noch viele Frauen das Arbeiten auf, kümmern sich um Haushalt und Kinder. Stichwörter wie "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" sind jetzt zwar heißes Thema in den Nachrichten, aber derzeit kaum denkbar in Japan, ist doch bekannt, wie viele Überstunden Japaner machen - oft arbeiten sie von sieben Uhr morgens bis Mitternacht.

    

Im Beruf akzeptiert - privat adoptiert.
Japaner sind höflich zurückhaltend und Bekanntschaften zu knüpfen ist gar nicht so einfach. Schon gar nicht, wenn man einander nicht versteht: Als Annette in Japan ankam, sprach sie kein Japanisch und viele Japaner kein Englisch. "Die Japanische Sprach zu lernen, ist extrem schwierig. Es dauert ewig, bis man sie einigermaßen beherrscht".
Aus diesem Grund hat Annette sich entscheiden, sie von der Pike auf zu lernen - und sie ist auf einem guten Weg. "Ich verstehe japanisch mittlerweile recht gut, spreche es auch. Beim Schreiben bin ich noch nicht so weit, aber Textnachrichten an meine Freunde schaffe ich". Mit dem Erlernen der Sprache konnte Annette das Vertrauen der Menschen gewinnen. "Ich habe mich sehr bemüht, aber ich hatte auch Glück, die richtigen Menschen getroffen zu haben. Mittlerweile haben sie mich "adoptiert", ich habe quasi Mama, Papa, eine Schwester hier in Japan", freut sich Werth.
Dieser Ersatz-Familie erzählt Annette auch von ihrer Heimat und begeistert sie mit unterschiedlichsten Fotos. "Meine Freunde sagen, ich lebe wie Heidi - und sie wollen unbedingt auch einmal nach Südtirol kommen. Vielleicht organisiere ich ja mal eine Südtirol-Reise für meine Freunde".

Apropos Südtirol.

Einen Plan für ihre Zukunft hat Annette Werth nicht. "Ich bin offen und flexibel, wenn ich auf ein interessantes Projekt stoße, bin ich gern dabei". Interessant findet Annette übrigens ihr Projekt zum Energieaustausch für Südtirol: "Es passt am besten, wo wenig Infrastruktur vorhanden ist oder in abgelegenen Orten. In Zukunft werden die Haushalte vermehrt ihre eigene Energie aus alternativen Energiequellen produzieren - und überschüssige Energie kann durch unser System einfach mit Nachbarn ausgetauscht werden. Derzeit steht der Prototyp auf der japanischen Insel Okinawa - morgen könnte das Projekt in Südtirol angewandt werden, denn unser Produkt eignet sich am besten für Inseln oder Berggegenden", so Werth.

Ob Annette wieder ganz nach Südtirol zurück kehren wird, das weiß sie noch nicht genau. "Ich lebe seit über zehn Jahren im Ausland, ich bin daran gewöhnt, nicht in Südtirol zu sein. Aber ich komme immer wieder gern heim und genieße Schlutzkrapfen und Kaminwurzen!". Ein Leben lang in Tokio zu bleiben, kann die junge Boznerin sich aber auch nicht vorstellen, "dafür vermisse ich die Berge und die Natur zu sehr".

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